‘Funktionshäftlinge’ in der Nachkriegsjustiz – Am Beispiel August Ginschels – Marie-Sophie Putz

August Ginschel wurde am 20. Jänner 1947 im Rahmen der Dachauer Prozesse zum Tode verurteilt, nachdem er zwei Jahre im KZ Flossenbürg interniert gewesen und zum „Funktionshäftling“ aufgestiegen war, und schließlich sogar als Wache einen der Todesmärsche begleiteten musste.Seine Prozessakte beleuchtet die tatsächlichen und diskursiven Grauzonen, welche „Kapos“ als Täter und Opfer des NS-Regimes bewohnten.

1. Kontextualisierung
Das Konzentrationslager in Flossenbürg wurde im Mai 1938 als Außenlager des KZ Dachau gegründet. Ähnlich wie bei den zivilen Arbeitern auf dem freien Arbeitsmarkt, stellte sich jedoch die „Beschaffung“ von genügend Häftlingen für den Arbeitsdienst als schwierig heraus. Um dies zu bewerkstelligen, wurden die Verfolgungsmaßnahmen politischer Gegner des Regimes verschärft und auf neue Bevölkerungsgruppen ausgeweitet. Diese „umfassende, ‚gesellschaftssanitäre‘ und sozialrassistische ‚Generalprävention‘“ hatte einen stetigen Zufluss neuer Häftlinge für die Arbeit im Steinbruch zur Folge.1
Der Umstand, dass die Gründung des KZ-Flossenbürg mit der Umstrukturierung des KZ-Systems und dem Ausbau der Verfolgungsmaßnahmen zeitlich zusammenfiel, spiegelte sich insbesondere in den ersten Jahren des KZ-Betriebs auch in den vertretenen Häftlingsgruppen wider: Es handelte sich fast ausnahmslos um Häftlinge, die als „Berufsverbrecher“ oder „Vorbeugehäftlinge“ bezeichnet wurden.2 Diese Häftlingsgruppe, die bis Ende 1939 aus vorwiegend deutschen, nicht-jüdischen Häftlingen bestand, stieg somit ab dem Eintreffen anderer Häftlingsgruppen ab 1940 vielfach zu sogenannten „Funktionshäftlingen“ oder „Kapos“ auf, die die SS bei der Verwaltung des Lagers unterstützen sollten.3

In den Jahren 1941 und 1942 verlagerte sich die zentrale Funktion des Konzentrationslagersystems – zeitgleich mit dem vermehrten Eintreffen „jüdischer“ Häftlinge und sowjetischer Kriegsgefangener – weg von „einfacher“ Zwangsarbeit zur wirtschaftlichen Ausbeutung hin zu gezielten, ideologisch motivierten Vernichtungsaktionen, an denen auch die Funktionshäftlinge maßgeblich beteiligt waren. Dies hatte auch Auswirkungen auf die Stellung der „Funktionshäftlinge“, die ihre zunehmenden Aufgabenbereiche mit immer größer werdender Brutalität gegenüber ihren Mithäftlingen ausübten.4
Die voranschreitende Entgrenzung des KZ-Systems, die von der wachsenden Häftlingspopulation beschleunigt wurde, mündete schließlich in der von Massensterben und Todesmärschen geprägten Endphase, in der Flossenbürg zu einem der Auffanglager für die umliegenden, aufgelösten Lager auserwählt wurde.5 Die entkräfteten Häftlinge wurden, bewacht von bewaffneten und zu „Aufsehern“ beförderten „Funktionshäftlingen“ und den verbliebenen SS-Mitgliedern, zu Fuß nach Floß getrieben, wo sie in Güterwägen verladen und unter Beschuss der amerikanischen Luftwaffe nach Südosten transportiert wurden. Dutzende Gefangenen starben auf dem Weg an Entkräftung oder unter Gewalteinwirkung der SS bzw. der nun bewaffneten „Kapos“, bis die Überlebenden schließlich um den 23. April 1945 von Einheiten der 97. Infanterie Division der 3. U.S. Armee befreit wurden. 6

Infolgedessen wurden sogenannte General Military Government Courts eingerichtet, die auf der Basis der Verordnung Nr. 2 des Generals Dwight D. Eisenhower die im KZ-Betrieb und auf den Todesmärschen verübten Verbrechen ahnden sollten. Insgesamt wurden in den Dachauer Prozessen 1672 Angeklagte vor Gericht gestellt – 426 davon wurden zum Tode verurteilt, 268 dieser Urteile auch vollstreckt. 7
Die in sechs Hauptverfahren gegliederten Prozesse, die sogenannten „parent cases“, mündeten in zahlreichen Nebenverfahren und Nachfolgeprozesse. Das Hauptverfahren zum KZ Flossenbürg, United States of America vs. Friedrich Becker et al., stellte 51 Angeklagte vor Gericht und endete in 40 Schuldsprüchen. Bei 16 dieser Angeklagten, von denen zwölf auch schuldig gesprochen wurden, handelt es sich um ehemalige KZ-Häftlinge, die als „Kapos“ tätig gewesen waren. 8

USA vs. Friedrich et al., Action file, S. 23.



2. Diskursive Wahrnehmungen von “Funktionshäftlingen”
Die Fallgruppe der „Funktionshäftlinge“ stellt somit sowohl die Nachkriegsjustiz als auch die die Geschichtswissenschaft vor einige elementare Fragestellungen. Insbesondere ihre Zwischenstellung als Opfer und Täter des Nationalsozialismus im Allgemeinen und des KZ-Systems im Speziellen verkompliziert gängige Typisierungen von Gewalthandlungen anhand festgefahrener Rollenzuteilungen. Mithilfe der Flossenbürger Prozessakten und des Falls August Ginschel soll dieser Beitrag die simplistische Täter-Opfer-Dichotomie, wie sie auch das Fortleben von NS-Bezeichnungen wie „Berufsverbrecher“ suggeriert, dekonstruieren.
Obwohl sogenannte „Funktionshäftlinge“ eine bedeutende Täter- und Opfergruppe in sämtlichen Konzentrationslagern des NS-Regimes darstellten, steht diese Häftlingsgruppe (noch) selten im Zentrum historischer Fragestellungen. Einzelne Werke beleuchten zwar ihre Bedeutung für das Lagersystem im Allgemeinen 9 und die Zusammensetzung und Handlungsspielräume der Gruppe in einzelnen Lagern im Speziellen10, jedoch gilt dies nicht für die „Kapos“ des KZ Flossenbürg. Ebenso wenig erforscht sind die Spezifika der Nachkriegsjustiz bezüglich ihrer Verortung am Scheidepunkt zwischen Opfer- und Täterrolle. Zwar streifen Werke zum hierarchischen Gefüge des NS-Regimes, 11 insbesondere in Bezug auf die Problematik des Befehlsnotstandes in der Endphase des Krieges, immer wieder diese Personengruppe, sie wird jedoch zu oft mit niederrangigen SS-Mitgliedern gleichgesetzt. Dadurch ergibt sich ein Flickenteppich verschiedener theoretischer Herangehensweisen, die die „Funktionshäftlinge“ immer wieder als Beispiel heranziehen, jedoch selten ihre Alleinstellungsmerkmale und damit einhergehenden Problematiken in den Ahndungsprozessen herausarbeiten.

Die Probleme, die mit einer Verortung der „Funktionshäftlinge“ im Lagerkontext einhergehen, beginnen bereits bei den analytischen Werkzeugen mithilfe derer das Ökosystems der Konzentrationslager für die Forschung fassbar gemacht wird. Hier hat die analytische Trennung der AkteurInnen in eine „absolute Macht“ auf der einen Seite und eine „absolute Ohnmacht“ auf der anderen Seite Tradition: So wird dem Repressionsapparat des NS-Regimes in der Form der SS-Verwaltung Erstere zugesprochen, während die Machtlosigkeit und Entmenschlichung der Opfer dieses Systems Zweiteres vorwegnimmt. 12 Die „Funktionshäftlinge“ als konzipierte „Häftlingselite“ können aufgrund ihres (wenn auch in vielen Fällen noch immer geringen) Handlungsspielraumes diese „absolute Ohnmacht“ nicht mehr für sich beanspruchen und werden somit diskursiv aus der Häftlingsgesellschaft externalisiert und der „absoluten Macht“ zugerechnet.
Diese theoretischen Konstrukte können jedoch weder den Lageralltag selbst noch die Stellung der „Funktionshäftlinge“ in diesem Mikrokosmos in aller seiner Vielschichtigkeit und Komplexität fassen. Primo Levi benennt diese Ambiguitäten als „Grauzonen“ der Lagergesellschaft, die weit mehr als eine dünne Schicht zwischen ansonsten statischen Konzepten wie „Täterschaft“ oder „Opferschaft“ beinhalten:13 Immerhin handelt es sich bei den „Funktionshäftlingen“ bei weitem um kein Randphänomen, wie auch die oben genannten Zahlen zu den Angeklagten der Dachauer Prozesse bestätigen. 14
Nichtsdestotrotz stellten diese „Grauzonen“ die amerikanischen Militärgerichte vor massive konzeptuelle Probleme, die auch in den Protokollen eindeutig ersichtlich sind. So spiegelt die Multiplizität der Rollenverteilung innerhalb des Prozesses – August Ginschel ist z.B. sowohl Hauptangeklagter des Prozesses als auch Zeuge der Staatsanwaltschaft 15 – die tatsächlichen Überschneidungen von Täter- und Opferrollen innerhalb des Konzentrationslagers wider. Somit rücken plötzlich Fragen zur Vertrauenswürdigkeit der Zeugen und mögliche Interessenskonflikte in den Mittelpunkt, da ohne eindeutige Täter-Opfer-Dichotomie auch ein moralisch-ethisches Schwarz-Weiß-Denken anhand von Kategorien wie „Gut“ und „Böse“ bzw. „vertrauenswürdig“ und „nicht vertrauenswürdig“ nicht mehr sinnvoll erscheinen.

Die Frage nach der Verortung der „Funktionshäftlinge“ auf dieser Grau-Skala wird durch die Weiterverwendung der vom NS-Regime instaurierten Begrifflichkeiten wie „Berufsverbrecher“ oder „Sicherheitsverwahrter“ nur weiter verkompliziert.16 Wie bereits in der Einleitung erläutert, geht die Existenz dieser Häftlingsgruppe auf gezielte Verhaftungsaktionen ab den späten Dreißigerjahren zurück, die mehr Arbeitskräfte innerhalb des KZ-System verfügbar machen sollte. Das Vorhandensein von Vorstrafen jeglicher Art wurde hierbei als Vorwand für eine Inhaftierung auf unbestimmte Zeit instrumentalisiert und diskursiv, mittels Begriffen wie „Krimineller“ oder „Asozialer“, legitimiert.17
Darüber hinaus suggerieren solche Begriffe jedoch auch einen gewissen Habitus, der Gewaltbereitschaft und einen natürlichen Hang zur Kriminalität beinhaltet. Gewalt wird hierbei als bereits bestehendes, habituelles Muster gedacht, das im Lagerkontext im besten Fall „überformt“, im Normalfall jedoch nur „freigesetzt“ wird. 18 Die Kontinuität dieser Begrifflichkeiten nach Kriegsende mündet demnach nicht nur in einem diskursiven, sondern auch in einem juristischen Ausschluss der „Funktionshäftlinge“ aus der Gruppe der NS-Opfer, obwohl die SS „Funktionshäftlinge“ keinesfalls nur aus dieser einen Häftlingsgruppe rekrutierte. Den hohen Stellenwert, den die Gerichte dieser Fremdzuweisung durch das NS-Regime zuschreiben, erkennt man insbesondere daran, dass im Laufe des Prozesses auffallend oft nach dem „grünen Dreieck“ – das NS-Symbol für „Berufsverbrecher“ – gefragt wird, wenn es darum geht die Gewaltbereitschaft eines Angeklagten zu eruieren. 19 Dieser Bias wirkt sich in weiterer Folge wohl auch auf das Urteil aus: „Funktionshäftlinge“ wurden oft ähnlich oder sogar härter bestraft als SS-Angehörige und saßen die verhängten Strafen auch länger ab. 20

3. August Ginschel: “Kaporechtsprechung” in der Praxis
August Ginschel ist einer der 16 Hauptangeklagten aus der Fallgruppe der „Kapos“, der im Rahmen des Falls United States of America vs. Friedrich Becker et al. vor Gericht gestellt wurde. Der Prozess begann am 12. Juni 1946 und dauerte bis zum 20. Jänner 1947 an.21 Die Gerichtsprotokolle allein umfassen 9472 Seiten und rekonstruieren größtenteils anhand von Zeugenaussagen die im KZ Flossenbürg und auf den vom Lager ausgehenden Todesmärschen verübten Verbrechen. Es handelt sich um eine überaus ergiebige Quelle, die jedoch allein aufgrund der Quellengattung mit Vorsicht zu handhaben ist – immerhin folgten auf den Hauptprozess mehrere Anklagen wegen Falschaussage. Darüber hinaus erhöht insbesondere das narrative Element des angelsächsischen Rechtsystems die Notwendigkeit einer lückenlosen Quellenkritik. 22 Selbst die Eckdaten zu August Ginschels Kindheit und frühem Werdegang wurden mit viel Pathos in Ginschels Reuediskurs eingebunden und dienten dem Angeklagten als Rechtfertigungsgrund für sein Verhalten.

USA vs. Friedrich et al., Arrest, Prison, and Execution of Sentence Case Records – August Ginschel, S.2.


3.1 August Ginschel im Spiegel der Prozessakten
August Ginschel ist am 2. März 1922 in Glumpenau in Schlesien geboren. Im Jahr 1934 soll er Teil einer katholischen Jugendorganisation gewesen sein, die bald von der Hitlerjugend übernommen wurde. Er gibt an, sich gegen seine Teilnahme in der Hitlerjugend gewehrt zu haben und zusammen mit einem anderen Burschen die HJ-Flagge zerrissen und angezündet zu haben. 23 Daraufhin wurde er in ein Kinderheim gebracht. An dieser Stelle divergieren Ginschels Aussage: Einmal sagt er aus, er wäre nach dem Tod seiner Eltern in ein Kinderheim gekommen, ein anderes Mal sei das Verbrennen der Flagge kausal gewesen. 24
Nach seinem 13. Geburtstag wurde er in das Schutzheim versetzt und machte die Melkerlehre. Ein Fluchtversuch vor seinem Meister endete mit der Amputation der Hälfte seines linken Unterarmes – diese Verletzung ist im Rahmen des Prozesses ein wichtigstes Erkennungsmerkmal. 25
August Ginschel datiert seine Einlieferung ins KZ Flossenbürg auf den 2. August 1943. Nach seinem Eintreffen wurde er zur Arbeit in der Weberwerkstatt eingeteilt – es stellte sich jedoch bereits nach einigen Tagen heraus, dass er sich dort mit seiner fehlenden Hand nicht nützlich machen konnte. 26 Daraufhin wurde er in der Waschküche eingeteilt, wo er bis zum 20. September 1943 auch blieb. 27
Als er auch dort negativ aufgefallen war, wurde er im Spital als Wache eingesetzt – der erste Schritt hin zum „Funktionshäftling“. Er hatte diese Position bis 28. oder 29. Oktober inne, als er zum KZ-Tor versetzt wurde, wo er als Läufer tätig war. 28 Ab Mitte Februar 1944 bis Ende Mai 1944 wurde er als Nietenträger eingesetzt, bis er schließlich am 29. Mai 1944 stellvertretender Blockältester des Blocks I wurde. Als solcher war er insbesondere für das Austeilen des Abendessens, der Reinigung des Blocks sowie der Beschaffung von Bier für prominente Häftlinge zuständig. 29
Kurz vor der Auflassung des Konzentrationslagers und dem Beginn des Todesmarsches nach Schwarzenberg wurde Ginschel zur Lagerwache. Er datiert diese Entwicklung auf den 12. April 1945, nur einige Tage vor Beginn des Todesmarsches. 30 Er bekam eine italienische Uniform und wurde mit einem italienischen Gewehr bewaffnet. Es sei ihm jedoch nicht möglich gewesen dieses tatsächlich zu benutzen, da er lediglich sechs deutsche Patronen, die mit dem Gewehr nicht kompatibel waren, bekam. Ginschel gibt ebenfalls an aufgrund seiner fehlenden Hand und dem Mangel an Training nicht in der Lage gewesen zu sein zu zielen oder zu schießen. 31
Die Kolonne verließ Flossenbürg am 16. April 1945 – Ginschel behauptet an dieser Stelle, dass die Lagerwachen den Befehl erhalten hätten, nicht auf erschöpfte oder fliehende Häftlinge zu schießen, sondern sie in das nächste Dorf entkommen zu lassen. 32 Die Häftlinge dürften nach dem ersten Marsch zuerst in einen Zug und dann in Güterwägen verladen worden sein – Ginschel sei jedoch nicht dabei gewesen, sondern habe in Schwarzenfeld nach Kaffee und Zigaretten gesucht. Von Schüssen oder Hinrichtungen am Weg wisse er auch nichts. 33
Nachdem die Kolonne im Wald um Schwarzenberg Schutz vor den amerikanischen Luftangriffen gesucht hatte, gelang es Ginschel wohl ein Auto nach Nürnberg zu nehmen und dort eine eitrige Wunde versorgen zu lassen. Nach sechs Wochen auf freiem Fuß wurde er schließlich am 28. Mai 1945 erneut in Gewahrsam genommen und vor Gericht gestellt. 34

3.2 Diskursive Einflüsse auf die Rechtsprechung
Die bereits in der theoretischen Annäherung angedeuteten Überlappungen zwischen Täter- und Opferrolle kommt bei August Ginschel besonders zum Tragen. Man erkennt auffällige Parallelismen zwischen Gewalthandlungen, die ihm angelastet werden und solchen, die er selbst vor seinem Aufstieg zum „Funktionshäftling“ erfahren musste. So wird ihm mehrfach vorgeworfen, er habe beim Austeilen der Essenration am Abend Häftlinge mit dem Suppenschöpfer geprügelt und bewusstlos geschlagen.35 In Laufe seines Kreuzverhörs gibt Ginschel jedoch an, ebenfalls bei der Essensvergabe mit dem Schöpfer vom Blockältesten ohnmächtig geprügelt worden zu sein und erst nach drei Stunden wieder zu Bewusstsein gekommen zu sein. 36
Anhand dieser Beispiele ergibt sich das facettenreiche Bild eines „Funktionshäftling“, der zu verschiedenen Zeitpunkten sowohl eine Opferrolle als auch eine Täterrolle innehatte. Selbst nach seinem vermeintlichen „Aufstieg“ in die „Häftlingselite“ ist er vor Gewalthandlungen –von SS-Anhängern und „untergeordneten“ Häftlingen gleichermaßen – nicht gefeit. Auch August Goltz, der wohl ein persönliches Zerwürfnis mit Ginschel hatte und gegen ihn ausgesagt hat, erwähnt die ständige Gefahr, der Ginschel auch als „Funktionshäftling“ noch ausgesetzt war:

„I have explained to you how this distribution of soup took place and I answered you that naturally Ginschel was attacked by this hungry people.” 37

Ebenso verworren gestalten sich auch die Verhältnisse zwischen den einzelnen Angeklagten und deren Zeugen. So belastet Goltz Ginschel in seiner Aussage 38 – ebenso wie Ginschel Goltz, 39 obwohl beide im KZ Flossenbürg zeitgleich als „Funktionshäftlinge“ tätig waren. Wiederum entlasten Ginschel und Jakubith, ein weiterer Angeklagter und „Funktionshäftling“, sich gegenseitig.40 Das Gericht vermutet hierbei sogar, die beiden hätten sich abgesprochen – Ginschel gibt jedoch an, überrascht gewesen zu sein, dass Jakubith zu seinen Gunsten ausgesagt hat. 41 Diese Unterschiede in der Wahrnehmung, die einzelne „Funktionshäftlinge“ voneinander haben, entkräftet das Bild des „Kapos“ als Teil eines Monoliths – sei es als eigene Kategorie oder als Teil der „absoluten Macht“. Ginschel geht keinesfalls nur aufgrund einer gemeinsamen „Funktionshäftlingsschaft“ davon aus, dass Jakobith ihn zwangsläufig entlasten wird. Ebenso scheint die ähnliche Stellung in der KZ-Hierarchie im Verhältnis mit Goltz kein Garant für Loyalität zu sein. Dieser Befund deckt sich mit Primo Levi’s Konzept der sich überlappenden Grauzonen innerhalb des KZ-Mikrokosmos: Das Verhalten einzelner Individuen rund um Ginschel (und sein eigenes Verhalten) im Laufe des Prozesses, schließt kategorische Denkmuster rund um simplistische Dichotomien schlichtweg aus.

August Ginschel wurde laut Eigenaussage am 2. August 1943 in Flossenbürg eingeliefert. Seine „kriminelle“ Vergangenheit – der vermeintliche Grund für seine Festnahme – wird im Rahmen seines Verhörs sofort thematisiert. Auf die Frage, wieso er nach Flossenbürg entsendet worden sei, antwortet Ginschel:

„Before I was sent to Flossenbürg, I had a sentence of 15 months.” 42

Diese Antwort mündet in mehreren Gegenfragen des Gerichts zu seinen Vorstrafen. Zu den oben genannten 15 Monate sei er wegen der Verteilung von Reisepässen an politische Dissidenten verurteilt worden. Auf Nachfrage des Gerichts gibt Ginschel ebenfalls zu, bereits zuvor wegen Unterschlagung angeklagt worden zu sein und zu diesem Zeitpunkt bereits insgesamt 15 Monate Freiheitsstrafe abgesessen zu haben. An dieser Stelle fragt das Gericht Ginschel dezidiert, ob er immer nur wegen „krimineller Absichten“ (engl. „criminal purposes“) in Gewahrsam war. Ginschel bejaht dies. 43
Daraufhin wendet sich das Verhör dem von Ginschel getragenen Winkel zu. Er habe zuerst den roten Winkel getragen, gibt er an, jedoch nur für 5 Monate. 44 Die Bedeutung des in weiterer Folge von Ginschel getragenen grünen Winkel ist dem Gericht sehr wohl bewusst. Immerhin findet sich an einer früheren Stell in den Akten folgende Interaktion mit dem Zeugen Kurt Goltz:

„Q: What kind of triangle did Weilbach, Nummer 48 wear?
A: A green one, sir.
Q: And what does the green triangle signify?
Mr. McKay: That is objected to, at this time, for it is attempted to go into the past record of these accused which cannot be done at this time until the accused put their character on the witness stand.”
45

Im Rahmen des Kreuzverhöres durch die Staatsanwaltschaft wird die Frage nach der kriminellen Neigung Ginschels nochmals aufgegriffen:

„Q: Now, Mr. Ginschel, is it not a fact that prior to the time of your conviction for issuing passports you were in a correction house?” 46

Ginschel wehrt sich gegen diesen eindeutigen Versuch, ganz dem oben angeführten Konzept des „kriminellen Habitus“ entsprechend, seine „kriminelle Natur“ bis in seine Kindheit zurückzuprojizieren. Es habe sich um lediglich um ein „Kinderheim“ bzw. ein „Selbstschutzcamp“ gehandelt. 47 Das Gericht zeigt sich von diesen Berichtigungsversuchen jedoch wenig beeindruckt.

USA vs. Friedrich et al., Arrest, Prison, and Execution of Sentence Case Records – August Ginschel, S.6.

4. Fazit
Trotz der Diskreditierung einiger Zeugenaussagen, ob im Rahmen der Kreuzverhöre oder mithilfe nachfolgender Prozesse wegen Falschaussage, wird August Ginschel am 20. Jänner 1947 für schuldig befunden und die Todesstrafe verhängt.
Dies geschieht entgegen der Einschätzung seines Pflichtverteidiger Mr. McKay, der in seinem Schlussplädoyer die spärliche Beweislage zusammenfasst. 48 Auf diesen Umstand wird auch in der am 27. Jänner eingereichten Clemency Petition aufmerksam gemacht:

„The death of the person allegedly beaten by Ginschel in Flossenbürg was established only by hearsay evidence.” 49

Der Clemency Petition ist ebenfalls zu entnehmen, dass der Schuldspruch Ginschels nach angelsächsischem Recht einem „Second Degree Murder“ gleichkommt – und somit selbst bei guter Beweislage für ordentliche Gerichte die Todesstrafe kein mögliches Urteil gewesen wäre. 50 Nichtsdestotrotz wird August Ginschel am 15. Oktober hingerichtet. 51 Der Fall August Ginschel fügt sich somit nahtlos in die allgemeinen Tendenzen der Nachkriegsjustiz ein: Kranebitter stellt für das KZ Mauthausen fest, dass Funktionshäftlinge bei weitem härtere Strafen als selbst hochrangige SS-Anhänger verhängt bekommen. 52 Dasselbe gilt auch für das KZ Flossenbürg: Obwohl „Funktionshäftlinge“ nur ein knappes Drittel der schuldig gesprochenen Angeklagten ausmachen, entfallen die Hälfte der vollstreckten Todesstrafen auf diese Gruppe. 53

USA vs. Friedrich et al., Clemency Petition for August Ginschel, S.1.
USA vs. Friedrich et al., Clemency Petition for August Ginschel, S.2.

  1. Skriebeleit, J. (2009). Aus den Vernichtungslagern in der Oberpfalz. Eine Bestandsaufnahme zu den jüdischen Häftlingen im KZ Flossenbürg. In M. Brenner, & R. Höpfinger, Die Juden in der Oberpfalz (S. 213-230, hier S. 215). ↩︎
  2. Diese Bezeichnungen, die auch im Laufe dieses Beitrags notwendigerweise kritisch reflektiert werden, waren die logische Konsequenz der im Dezember 1937 erlassenen Bestimmungen zur „Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ und des „Schutzhafterlasses“ im Jänner 1938. Siehe Neuengamme, K.-G. (2009). Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, S.9 und Skriebeleit, J. (2009). Aus den Vernichtungslagern in der Oberpfalz, S. 216.  ↩︎
  3. Schikorra, C., & Flossenbürg, K.-G. (2008). Konzentrationslager Flossenbürg 1938 – 1945: Katalog zur ständigen Ausstellung, S.13. ↩︎
  4. Neuengamme, K.-G. (2009). Ausgegrenzt. „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, S.27. ↩︎
  5. Schikorra, C., & Flossenbürg, K.-G. (2008). Konzentrationslager Flossenbürg 1938 – 1945: Katalog zur ständigen Ausstellung, S.67 und Skriebeleit, J. (2009). Aus den Vernichtungslagern in der Oberpfalz, S.218.  ↩︎
  6. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4622-33. ↩︎
  7. Sigel, R. (2011). Die Dachauer Prozesse 1945-1948 in der Öffentlichkeit: Prozesskritik, Kampagne, politischer Druck. In J. Osterloh, & C. Vollnhals, NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR (S. 131-148, hier S. 134). ↩︎
  8. USA vs. Friedrich et al., Action file, S. 23 und Sigel, R. (2011). Die Dachauer Prozesse 1945-1948 in der Öffentlichkeit: Prozesskritik, Kampagne, politischer Druck. In J. Osterloh, & C. Vollnhals, NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR (S. 131-148, hier S.132). ↩︎
  9. W. (1997). Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager und Ludewig-Kedmi, R. (2001). Opfer und Täter zugleich? Moraldilemmata jüdischer Funktionshäftlinge in der Shoah. ↩︎
  10. Hörath, J. (2017). „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. ↩︎
  11. Kuretsidis-Haider, C., Selerowicz, A., Sanwald, S., & Garscha, W. R. (2011). Lagerhierarchie – Biogramme. Kommandanten, Funktionäre, Ärzte, Kapos des KZ Lublin-Majdanek. In C. Kuretsidis-Haider, Das KZ Lublin-Majdanek und die Justiz : Strafverfolgung und verweigerte Gerechtigkeit: Polen, Deutschland und Österreich im Vergleich (S. 31-52) und Streibel, R., & Armanski, G. (1996). Strategie des Überlebens: Häftlingsgesellschaften in KZ und GULag. ↩︎
  12. Kranebitter, A. (2020). Die permanente Gewaltsituation. Gewalthandeln von Funktionshäftlingen in Konzentrationslagern. Österreichische Zeitung für Soziologie 45, S. 89-111, hier S. 93. ↩︎
  13. Levi, P. (1990). Die Untergegangenen und die Geretteten, S. 16. ↩︎
  14. USA vs. Friedrich et al., Action file, S. 23. ↩︎
  15. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4646. ↩︎
  16. Kranebitter, A. (2020). Die permanente Gewaltsituation. Gewalthandeln von Funktionshäftlingen in Konzentrationslagern.Österreichische Zeitung für Soziologie 45, S. 89-111, hier S. 93. ↩︎
  17. Lieske, D. (2016). Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, S.56. ↩︎
  18. Kranebitter, A. (2020). Die permanente Gewaltsituation. Gewalthandeln von Funktionshäftlingen in Konzentrationslagern. Österreichische Zeitung für Soziologie 45, S. 89-111, hier S. 95. ↩︎
  19. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 1, S. 209. ↩︎
  20. Kranebitter, A. (2020). Die permanente Gewaltsituation. Gewalthandeln von Funktionshäftlingen in Konzentrationslagern. Österreichische Zeitung für Soziologie 45, S. 89-111. ↩︎
  21. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 1-113. ↩︎
  22. Kuretsedis-Haider, C. (2010). Gerechtigkeit nach Diktatur und Krieg: transnational justice 1945 bis heute. Strafverfahren und ihre Quellen, S. 4. ↩︎
  23. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4608. ↩︎
  24. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4609. ↩︎
  25. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4609. ↩︎
  26. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4610. ↩︎
  27. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4611. ↩︎
  28. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4612. ↩︎
  29. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4614f. ↩︎
  30. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4621. ↩︎
  31. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4622 – 4625. ↩︎
  32. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4627. ↩︎
  33. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4629. ↩︎
  34. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4631 – 33. ↩︎
  35. z.B. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 1, S. 137f und Vol. 2, S. 396ff. ↩︎
  36. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4646. ↩︎
  37. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 1, S. 203. ↩︎
  38. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 1, S. 137f. ↩︎
  39. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4646. ↩︎
  40. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4646f. ↩︎
  41. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4647. ↩︎
  42. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4607. ↩︎
  43. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4607. ↩︎
  44. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 44, S. 4608. ↩︎
  45. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 1, S. 209. ↩︎
  46. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4645f. ↩︎
  47. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 45, S. 4646. ↩︎
  48. USA vs. Friedrich et al., Trial Transcripts Vol. 112, S. 9289ff. ↩︎
  49. USA vs. Friedrich et al., Clemency Petition for August Ginschel, S. 2.  ↩︎
  50. USA vs. Friedrich et al., Clemency Petition for August Ginschel, S. 1. ↩︎
  51. USA vs. Friedrich et al., Clemency Petition for August Ginschel, S. 3. ↩︎
  52. Kranebitter, A. (2020). Die permanente Gewaltsituation. Gewalthandeln von Funktionshäftlingen in Konzentrationslagern. Österreichische Zeitung für Soziologie 45, S. 89-111. ↩︎
  53. USA vs. Friedrich et al., Action file, S. 23. ↩︎
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