Alma Rosé Preisträger 2024, Hendrik Althoff: Rothenbaumchaussee 38. Die Biografie eines Hauses zwischen Raub und Restitution
1. Das Grundeigentum jüdischer Gemeinden im Fokus
Als Teil der antisemitischen Verfolgungspolitik des Nationalsozialismus wurden nicht nur Privatpersonen und Unternehmen um ihr Eigentum gebracht. Auch die jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich waren von einer systematischen Enteignung betroffen. Das immense Kapital, das dabei durch erzwungene Verkäufe transferiert wurde, bestand zum Großteil aus einer Vermögensart, die in der Forschung zur NS-Raubpolitik bislang nur wenig Beachtung gefunden hat: Grundstücke und Gebäude. Mit diesem Verlust wurden die jüdischen Gemeinden nicht nur um beträchtliche ökonomische Werte gebracht. Synagogen, Wohlfahrtseinrichtungen, Schulen und andere Orte, die der jüdischen Gemeinschaft kollektiv gehörten und gemeinsam genutzt wurden, hatten auch eine vergemeinschaftende und identitätsstiftende Funktion für die Gemeinden, denen sie zugleich zur Repräsentation nach außen dienten. Durch die Enteignung der dazugehörigen Grundstücke wurden so auch wichtige soziale und emotionale Orte jüdischen Lebens zerstört. Um eine Rückerstattung mussten die neu gegründeten jüdischen Gemeinden in der jungen Bundesrepublik häufig lange kämpfen – und zwar an gleich zwei Fronten: Sie sahen sie sich nicht nur mit einer abweisenden deutschen Bürokratie konfrontiert, sondern auch mit starken jüdischen Stimmen, denen ein Neubeginn im „Land der Täter“ unmöglich erschien. Der Streit für eine ökonomische „Wiedergutmachung“ hing so eng zusammen mit der Frage danach, ob jüdisches Leben in der deutschen Nachkriegsgesellschaft wieder einen Platz finden konnte und sollte.
2. Das Hamburger Gemeindehaus in der Rothenbaumchaussee
Die Geschichte des ehemaligen jüdischen Gemeindehauses in der Hamburger Rothenbaumchaussee 38 zeigt exemplarisch die vielfältigen Konsequenzen und Konflikte auf, die sich mit der Enteignung und Rückerstattung dieses Grundeigentums verbanden. Der Stadtteil Rotherbaum, am Westufer des Alstersees gelegen, entwickelte sich seit dem späten 19. Jahrhundert zum Zentrum jüdischen Lebens in Hamburg. Hier lebten 1925 fast zwei Drittel der etwa 19.000 Mitglieder der Deutsch-Israelitischen Gemeinde1 und hier war bereits 1906 mit der Bornplatzsynagoge das größte jüdische Gotteshaus Norddeutschlands eingeweiht worden.2 Vor diesem Hintergrund suchte die jüdische Gemeinde ab 1915 nach einem neuen Verwaltungsgebäude, das sich in der Nähe aller ihrer sonstigen Institutionen befinden sollte, und entschied sich schließlich für eine Villa in der Rothenbaumchaussee 38. Am 15. Mai 1916 wurde der Kauf dieses „den Bedürfnissen der Neuzeit entsprechenden Hauses“3 von den Gemeindegremien beschlossen.
Das neue Gemeindehaus sollte nicht nur der profane Arbeitsplatz der Gemeindeverwaltung sein. Vielmehr wurde es, etwa durch eine aufwändige Einweihungsfeier, als symbolischer Ort aufgeladen, als Anlaufstelle für die Gemeindemitglieder und als politisches Zentrum jüdischen Lebens, der auch identitätsstiftenden Charakter haben sollte.4 Eine Galerie mit Gemälden einflussreicher jüdischer Bürger:innen verband das Haus mit der über 300 Jahre alten jüdisch-hamburgischen Geschichte.5 Zugleich war die Stadtvilla ein Ort, an dem Gemeindevertreter Besuch empfingen und der so die wohlhabende und integrierte Gemeinde nach außen verkörperte. Deutlich drückte sich diese symbolische Bedeutung in einem Gedicht aus, das einem Gästebuch vorangestellt war, das dem Vorstand zum Einzug geschenkt wurde:
"In Kriegeswehen, im Weltenbrande
Eröffnen sich die neuen Räume,
So mögen sie strahlen über die Lande,
Verwirklichend des Heiles Träume.
Dem Frieden leuchten sie, der Einheit –
Verstummen werden Deutschlands Feinde –
Der Wahrheit dienen sie in Reinheit
Ein Hort des Glückes der Gemeinde."6
Auch auswärtige Besucher:innen würdigten das Gemeindehaus als einladenden und repräsentativen Ort. Noch in einer kurzen Reportage in einer 1936 erschienenen Ausgabe der Central-Vereins-Zeitung nimmt das Gebäude einen wichtigen Platz in der Betrachtung ein. Die stellvertretende Chefredakteurin Margarete Edelheim berichtete angetan von ihrem Besuch der Hamburger Gemeinde:
Ihr Sitz ist ein schönes, altes Bürgerhaus am Rothenbaum. Zwei Sitzungssäle atmen die Luft hamburgischen Patriziertums. Von den Wänden blicken uns Gemälde alter Vorsteher – auch hier z. B. das Bild Gabriel Riessers – und hochherziger Stifter an, feine, kluge jüdische Köpfe von stark hanseatischem Gepräge. Aus den Fenstern sieht man auf die Bäume dieser schönen Gartenstadt. Innen aber herrscht lebhaftes Kommen und Gehen, das Zeichen einer mit den zu Betreuenden stark verbundenen Gemeinschaft.7
3. Vom Zentrum jüdischen Lebens zum Gestapo-Tatort
Durch seine besondere symbolische Aufladung rückte das Gemeindehauses allerdings auch ins Visier der Hamburger Gestapo, die seit der Gründung eines eigenen „Judenreferats“ im April 1937 zunehmend die Kontrolle über das jüdische Leben in der Stadt gewann.8 Im Novemberpogrom von 1938 ergab sich für die Beamten unter dem Kriminalkommissar Claus Göttsche schließlich die Möglichkeit zum Zugriff. Das Gemeindehaus in der Rothenbaumchaussee 38 wurde nicht nur verwüstet, sondern auch, wie Göttsche später erklärte „aus Anlaß der Judenaktion“9 beschlagnahmt. Schnell wurde klar, dass es sich hierbei um den Auftakt zu einem perfiden Plan handelte: Das „Judenreferat“ wollte seinen eigenen Dienstsitz in das jüdische Gemeindehaus verlegen. Diese „Eroberung“ unterstrich einen Machtanspruch der Gestapo über die jüdische Gemeinde, der nur wenig später auch institutionell durchgesetzt wurde. Am 2. Dezember 1938 ernannte Claus Göttsche den bisherigen Syndikus der jüdischen Gemeinde Max Plaut zum alleinigen Geschäftsführer, der fortan der Gestapo als „Aufsichtsbehörde“ unterstand.10 Die Gestapo als neue Herrscherin über das jüdische Leben in Hamburg – diese Ermächtigung fand in Bezug des Verwaltungsgebäudes eine unmissverständliche Manifestation.
In den folgenden Monaten zeigte der Fall des Hamburger Gemeindehauses ein zentrales Charakteristikum der nationalsozialistischen Enteignung von Grundbesitz: So zwingend die äußeren Umstände auch waren, so hatte doch jeder Transfer auf dem formal korrekten Weg des Verkaufs zu erfolgen, der stets nach den im BGB festgelegten Abläufen vollzogen wurde. Eine schlichte Beschlagnahme, die die Eigentumsverhältnisse ohne Weiteres änderte, war keine Option – noch nicht einmal für die Gestapo. Nachdem sie das jüdische Gemeindehaus erfolgreich in ihre Gewalt gebracht hatte, suchte sie daher nach Wegen, diese Übernahme nachträglich zu legalisieren. Vor dem Hintergrund, dass die jüdische Gemeinde bereits seit dem 9. November 1938 keinen Zugang mehr zum Gebäude hatte, und angesichts einer zunehmend dramatischen Finanzlage verkaufte sie das Grundstück am 5. September 1938 für 35.000 RM an die Gestapo.11 Nur wenige Monate zuvor hatte die Hamburger Baubehörde die Immobilie noch auf 91.000 RM geschätzt.12 Doch auch der stark verringerte Kaufpreis erreichte die jüdische Gemeinde nicht. Stattdessen wurde die Summe unter dem Vorwand ausstehender „Schulden“ für die Wohlfahrtspflege an die Hamburger Sozialbehörde überwiesen.13
Als die Gestapo das Gebäude nach zweijähriger Umbauzeit bezog, bedeutete diese Nutzungsänderung auch eine völlige Umdeutung des früheren jüdischen Gemeindezentrums zu einem zentralen Tatort der Judenverfolgung in Hamburg. Das Haus in der Rothenbaumchaussee fungierte fortan als eine Art eigenes Polizeirevier, dessen Beamte nur für die „Vergehen“ von Jüdinnen und Juden zuständig waren. Da die Unterlagen der Gestapo weitestgehend vernichtet wurden, erlauben nur die Erinnerungen von Zeitzeug:innen Einblicke in die Praxis dieser Polizeiarbeit. Ulrich Pross, der als KZ-Häftling zu Hilfsdiensten für das Referat eingeteilt worden war, berichtete in einem Interview über die dortige Arbeitspraxis, die häufig mit anonymen Denunziationen begann.14 Bestand erstmal ein Anfangsverdacht, war der Rest des Verfahrens weitestgehend von der Willkür des bearbeitenden Beamten abhängig. Die Beschuldigten wurden entweder zu Hause aufgesucht und festgenommen oder in den Dienstsitz des Referats vorgeladen – häufig ohne Angabe von Gründen, geschweige denn eine juristische Grundlage. „Da sind auch viele Leute verhaftet worden“, so Pross, „die wissen gar nicht warum.“15 An die ständige Angst vor einer Vorladung erinnerte sich auch die Zeitzeugin Margarethe Moser: „Ich wagte nicht, den Briefkasten aufzuschließen. Ich sehe noch diesen grünen Brief, und auf der Rückseite ‚Geheime Staatspolizei‘. Das habe ich noch so vor mir.“16
Moser wurde selbst mehrfach in der Rothenbaumchaussee vorgeladen, wo es zuging „wie im Taubenschlag. […] Es kamen immer welche. Sie hörten Menschen weinen und so weiter.“17 Der Willkür der Beamten waren die Vorgeladenen schutzlos ausgeliefert. Die Mittel zur Einschüchterung und Demütigung der Vorgeladenen reichten dabei vom stundenlangen Wartenlassen über wüste Beschimpfungen bis hin zu physischer, auch sexualisierter Gewalt. Über allem schwebte die ständige Gefahr der Einweisung ins Konzentrationslager. Ein brutales Vorgehen der Beamten ist vor allem gegenüber den Jüdinnen und Juden in „Mischehe“ mit „arischen“ Partner*innen überliefert. Diese Ehen versuchte die Gestapo durch Versprechungen oder Drohungen auseinanderzubringen, um die jüdischen Ehepartner:innen das gesamte Ausmaß der Diskriminierung spüren zu lassen.18
Zusätzlich zu diesem „Arbeitsalltag“ kam dem „Judenreferat“ in der Rothenbaumchaussee ab Herbst 1941 eine neue Aufgabe zu: die Durchführung der Deportationen von ca. 7.500 Jüdinnen und Juden aus Hamburg. Auf Basis des Archivs der jüdischen Gemeinde und mithilfe ihrer früheren Verwaltungsmitarbeiter erstellte das Referat die Deportationslisten und versandte die „Evakuierungsbefehle“, mit denen die Deportierten zu den Sammelstellen befohlen wurden.19 Aus dem „Hort des Glückes der Gemeinde“ war eine Organisationszentrale ihrer systematischen Unterdrückung und Vernichtung geworden.
Im Zuge der schweren Bombardierungen Ende Juli und Anfang August 1943 und der damit einhergehenden Raumnot war das „Judenreferat“ gezwungen, seinen Dienstsitz zu verlegen. In der Rothenbaumchaussee 38 wurde das Referat zur Überwachung der „Fremdarbeiter“ unter Kriminalkommissar Albert Schweim einquartiert.20 Über die Dauer des Zweiten Weltkriegs waren in Hamburg über 400.000 von ihnen in mehr als 1.200 Lagern interniert, und das „Ausländerreferat“ war dafür zuständig, aufrührerische Umtriebe, Streiks und Sabotage mit harter Hand zu verhindern. In der Rothenbaumchaussee 38 liefen fortan die Fäden des Terrors gegen die „Fremdarbeiter“ zusammen. Im Haus selbst vergingen sich seine Beamten an den „Fremdarbeitern“ in Form der „verschärften Vernehmung“. Im Juni 1944 wurde ein Kellerraum durch das Einziehen zweier Wände aufgeteilt und so zu drei Gefängniszellen umgebaut. Eine Mitarbeiterin des Referats berichtete später im Verfahren gegen Schweim, dass sich die „Leute in der Umgebung des Hauses in der Rothenbaumchaussee beschwerten, dass so fürchterliche Schreie von Gequälten zu hören waren.“21 Auch als das „Judenreferat“ ausgezogen war, war die Rothenbaumchaussee 38 weiterhin als Schauplatz des Gestapo-Terrors bekannt.
4. Die lange Rückkehr der jüdischen Gemeinde
Als Hamburg am 3. Mai 1945 von der britischen Armee befreit wurde, stand das Haus in der Rothenbaumchaussee 38 leer – die Gestapo war bereits geflohen. Schon wenige Tage später nahmen jüdische Überlebende das Haus wieder in Besitz und organisierten von hier aus die Verpflegung und Unterbringung von KZ-Rückkehrer:innen aus dem DP-Camp Belsen.22 Bereits am 18. September 1945 wurde das frühere Gemeindehaus dann zum Schauplatz einer bedeutenden Versammlung: Eine Gruppe von 72 Personen gründete hier die Jüdische Gemeinde in Hamburg (JGH).23 Seitdem fungierte das Haus, das bei den Bombardierungen Hamburgs kaum beschädigt worden war, wieder als Gemeindezentrum. Die erneute Nutzung bedeutete auch eine erneute Umdeutung des Ortes, wie der erste Gemeindevorsitzende Harry Goldstein rückblickend feststellte: „Nur intensivste Arbeit ließ uns vergessen, wie viel bittere Tränen in diesem Gebäude seit dem 9. November 1938geflossen waren.“24
Dabei ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Gemeinde das Haus wieder in Besitz nahm, durchaus bemerkenswert. Denn die Frage nach der rechtmäßigen Eigentümerschaft blieb noch jahrelang gänzlich ungeklärt. Strenggenommen, so räumte Goldstein ein, kam daher die Benutzung durch die Gemeinde eher einer Hausbesetzung gleich.25 Dabei konnte die JGH sich allerdings auf die Rückendeckung der britischen Militärregierung verlassen. Die jüdische Gemeinde wurde als Verwalter des Hauses eingesetzt; Ansprüche der Hamburger Behörden, die das Haus anderweitig nutzen oder sogar Miete von der Gemeinde verlangen wollten, wurden erfolgreich abgewehrt.26 Ein Foto von 1949 zeigt das Gemeindehaus, anlässlich des ersten Jahrestages der Staatsgründung Israels mit einer großen Flagge geschmückt. Es steht sinnbildlich für das Selbstbewusstsein der jungen Gemeinde, die unmittelbar an die jüdische Tradition dieses Ortes anknüpfte, den Neuanfang wagte und sich dabei nicht scheute, öffentlich Präsenz zu zeigen.27
Dass sie sich nicht nur moralisch, sondern auch juristisch im Recht befand, stand für die Gemeinde außer Frage, und die baldige Rückerstattung des Hauses galt ihr als reine Formalität. Unmittelbar vor der Aufnahme des Fotos, am 12. Mai 1949, hatte die britische Militärregierung ein Gesetz erlassen, auf dessen Grundlage von den Nationalsozialisten enteignetes Eigentum zurückerstattet werden konnte.28 Die Gemeinde meldete ihren Anspruch umgehend an.29 Tatsächlich gestaltete sich der Prozess der Rückerstattung jedoch weitaus komplizierter als gedacht. Im Gegensatz zur großen Masse der Rückerstattungsverfahren kreisten die Auseinandersetzungen im Falle des Gemeindeeigentums dabei weniger um die Frage, ob ein Anspruch auf Restitution bestand. Strittig war vielmehr, wer einen Anspruch darauf hatte, dieses Vermögen zurückzufordern. In Hamburg etwa sah sich die Jüdische Gemeinde Hamburg nicht nur in der Tradition der früheren Deutsch-Israelitischen Gemeinde, sondern verstand sich auch juristisch als deren Nachfolgerin (und damit als Erbin). Eine solche Anerkennung blieb ihr jedoch zunächst durch die britische Militärregierung versagt.30
Zum handfesten Problem wurde diese juristische Unsicherheit in der Auseinandersetzung mit den sogenannten „jüdischen Nachfolgeorganisationen“, die ab 1948 von internationalen jüdischen Organisationen in allen westlichen Besatzungszonen gegründet wurden. Für die britische Besatzungszone war die Jewish Trust Corporation (JTC) zuständig.30 Diese Treuhandstellen hatten zur Aufgabe, geraubtes Eigentum jüdischer Personen zurückzufordern, die ermordet worden waren und keine Erbinnen oder Erben hinterlassen hatten.31 Zusätzlich erlangten die Nachfolgeorganisationen allerdings auch den alleinigen Zugriff auf das frühere Eigentum jüdischer Organisationen und Gemeinden. Auch im Fall der Rothenbaumchaussee 38 wurde der Restitutionsantrag der Jüdischen Gemeinde Hamburg schlicht nicht weiterbearbeitet; stattdessen verhandelte die Stadt Hamburg mit der JTC über die Rückerstattung. Das Beispiel des Hamburger Gemeindehauses verweist so auf einen grundsätzlichen Konflikt zwischen verschiedenen jüdischen Institutionen im Deutschland der Nachkriegszeit.
Um konträre juristische Ansprüche ging es dabei nur an der Oberfläche. Die Restitutionsdebatte war vielmehr ein bedeutender Schauplatz für den zentralen innerjüdischen Konflikt der Nachkriegszeit: Sollten Jüdinnen und Juden wieder im „Land der Täter“ heimisch werden, obwohl mit dem Staat Israel eine sichere Heimstätte für das jüdische Volk bestand?32 Dass Nachkriegsgemeinden wie jene in Hamburg an ihre lange Tradition anknüpfen und das Wagnis des Wiederaufbaus eingehen wollten, stieß bei den jüdischen Vertretungen im Ausland auf Unverständnis und Ablehnung. So unterstrich der Jüdische Weltkongress auf seiner ersten Nachkriegstagung 1948 in einer Resolution den Willen des jüdischen Volkes, „sich nie wieder auf der blutbefleckten Erde Deutschlands niederzulassen“.33 Die aus dem Ausland finanzierten Nachfolgeorganisationen fühlten sich dieser Politik verpflichtet und sprachen den neuen Gemeinden den Anspruch auf das frühere Gemeindeeigentum kategorisch ab.34 Für die Praxis bedeutete das: Die JTC forderte die in der NS-Zeit enteigneten Grundstücke zwar in großen Umfang zurück, bemühte sich anschließend jedoch zumeist um ihre Veräußerung, um mit den Erlösen den Aufbau in Israel zu finanzieren. In vielen Fällen verzichtete sie sogar auf eine Rückerstattung gegen Zahlung einer Entschädigung. Dass die aus dem Ausland finanzierten Nachfolgeorganisationen den neugegründeten jüdischen Gemeinden ihr Grundeigentum verwehrten, beschrieb Dan Diner treffend als den „materielle[n] Kernbestand des auf Deutschland lastenden Banns, Juden mögen dort nie wieder sesshaft werden“.35
Für die neu gegründete Hamburger Gemeinde war die Frage „Gehen oder bleiben?“ zu diesem Zeitpunkt klar zugunsten einer dauerhaften jüdischen Existenz in Deutschland entschieden.36 Sie musste es folglich als Bedrohung wahrnehmen, als die JTC 1953 das Haus in der Rothenbaumchaussee 38 im Restitutionsverfahren zugesprochen bekam.37 Die jüdische Gemeinde musste damit rechnen, erneut aus ihrem Gemeindehaus vertrieben zu werden. Doch nach langer Auseinandersetzung mit den neuen Gemeinden hatte sich die JTC grundsätzlich bereit erklärt, den neuen Gemeinden immerhin jenes Eigentum zur Verfügung zu überlassen, das „für einen konkreten jüdisch-kommunalen Zweck benötigt wird“.38 Nun kam es der JGH zugute, dass sie das Gemeindehaus bereits zu einem Zeitpunkt wieder genutzt hatte, an dem eine Rechtsgrundlage hierfür noch in weiter Ferne lag: Sie bekam das Haus tatsächlich von der JTC überschrieben, wenngleich die Verhandlungen hierüber erst 1960 zum Abschluss kamen.
5. Fazit
Das Haus an der Rothenbaumchaussee 38 spiegelt die dramatische Geschichte der jüdischen Gemeinde Hamburgs im 20. Jahrhundert: Auf der Suche nach einem repräsentativen Quartier, das den Bedürfnissen und dem Selbstbild der Gemeinde entsprach, kaufte diese die pittoreske Stadtvilla 1916 als neues Gemeindehaus an. Mit der Enteignung und Umnutzung durch die Gestapo wurde das frühere jüdische Gemeindezentrum zu einem der zentralen Tatorte des Holocaust in Hamburg. In der Nachkriegszeit wiederum erscheint es als Symbol einer traditions- und selbstbewussten Rückkehr und Reintegration in die deutsche Gesellschaft. Seit 2022 erinnert eine Gedenktafel an die wechselvolle Vergangenheit dieses Ortes.
Das Fallbeispiel zeigt dabei auch grundsätzlich, welches Potenzial die Untersuchung einzelner Grundstücke und Gebäude im Eigentum jüdischer Gemeinden für die Erforschung der deutsch-jüdische Geschichte hat. Als materielle Grundlage und symbolische Repräsentanz jüdischen Lebens war der Umgang mit ihnen eng mit der Frage nach der gesellschaftlichen Existenz des Judentums im Ganzen verknüpft. Nicht zufällig richtete sich die Gewalt im Novemberpogrom 1938 im ganzen Deutschen Reich vor allem gegen Synagogen. Den Großteil ihres Grundvermögens verloren die jüdischen Gemeinden um 1942, als das jüdische Leben in Deutschland mit den Deportationen in den „Osten“ sein mörderisches Ende fand. Und in der Nachkriegszeit drückte sich in der Auseinandersetzung um diese Grundstücke die Frage aus, ob jüdisches Leben in Deutschland wieder möglich sein sollte.
Anknüpfend an die Forschungen zur Rothenbaumchaussee 38 untersucht das DFG-geförderte Projekt „Überlebende Orte? Das Grundeigentum jüdischer Gemeinden zwischen Raub und Restitution“ aktuell die Geschichte des Grundvermögens der jüdischen Gemeinde in Hamburg. Dabei werden neben den Prozessen von Enteignung und Rückerstattung auch die Veränderungen in der materiellen Substanz der betroffenen Bauwerke, die Nutzung dieser Orte und der Wandel in ihrer symbolischen Bedeutung in die Untersuchung miteinbezogen. Die Entwicklung der untersuchten Grundstücke und Gebäude reflektiert so die Gesellschaftsgeschichte der deutsch-jüdischen Minderheit zwischen nationalsozialistischer Diktatur und bundesrepublikanischer Demokratie, zwischen rücksichtloser Exklusion und selbstbewusster Reintegration, brutaler Verfolgung und der Behauptung einer deutsch-jüdischen Existenz nach der Katastrophe.
- Zu diesem innerstädtischen Migrationsprozess vgl. Helga Krohn: Die Juden in Hamburg. Die politische, soziale und kulturelle Entwicklung einer jüdischen Großstadtgemeinde nach der Emanzipation 1848–1918, Hamburg 1974, S. 82. ↩︎
- Zur Geschichte der Synagoge vgl. Andreas Brämer/Ulrike Fauerbach (Hg.): Die Große Synagoge am Bornplatz in Hamburg. Beiträge zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Areals als jüdisches Kulturerbe, Petersberg 2024. ↩︎
- Korrespondenzen und Nachrichten, in: Allgemeine Zeitung des Judentums [AZJ], 12.1.17, Beilage: Der Gemeindebote, S. 2. ↩︎
- Vgl. die Rede des Gemeinderabbiners David Leimdörfer: Psalm 30. Aus einer Rede zur Einweihung des neuen Gemeindehauses der Deutsch- Israelitischen Gemeinde in Hamburg, in: AZJ, 19.10.17, S. 1 f. ↩︎
- Darunter war auch das bekannte Portrait des Vorkämpfers für die jüdische Emanzipation Gabriel Riesser von Moritz Daniel Oppenheim, vgl. Martin Engel: Gabriel Riesser, in: Jüdisch-liberale Zeitung, 19.8.31, S. 3 f. ↩︎
- Staatsarchiv Hamburg [StAHH], 522–1 Jüdische Gemeinden, 449 c, Gästebuch, gestiftet anlässlich der Einweihung, S. 2. ↩︎
- Margarete Edelheim: Die jüdische Gemeinde Hamburg, in: Central-Verein-Zeitung, 3.12.36, 2. Beiblatt, S. 1–4, hier S. 2. ↩︎
- Zur Geschichte und Arbeit dieser Abteilung vgl. Hendrik Althoff: From Persecution to Deportation. Hamburg’s Jewish Population and the Hamburg Gestapo ‚Judenreferat‘, in: Michaela Raggam-Blesch/Peter Black/Marianne Windsperger (Hg.): Deported. Comparative Perspectives on Paths to Annihilation for Jewish Populations unter Nazi German Control, Wien 2024, S. 123–142. ↩︎
- StAHH, 311–2 IV Finanzdeputation IV, DV I B 2 g V B 1, Schreiben der Gestapo, 4.2.39, Bl. 3. ↩︎
- Vgl. Jörg Berkemann/Ina Lorenz (Hg.): Die Hamburger Juden im NS-Staat, Göttingen 2016, Bd. 2, S. 78. ↩︎
- Vgl. StAHH, 321–2 Baudeputation, B 1090, Schreiben der Gestapo, 12.12.39. ↩︎
- Vgl. ebd, Wertschätzung des Hochbauamtes, 11.7.39. ↩︎
- Zu diesem Mechanismus vgl. Uwe Lohalm: Fürsorge und Verfolgung. Öffentliche Wohlfahrtsverwaltung und nationalsozialistische Judenpolitik in Hamburg, Hamburg 1998, S. 54. ↩︎
- Vgl. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg – Werkstatt der Erinnerung [FZH–WdE], 278, Interview mit Ulrich Pross, geführt von Jens Michelsen, 15.11.94, S. 20. ↩︎
- FZH–WdE, 278, Interview Ulrich Pross, S. 21. ↩︎
- FZH–WdE, 013, Interview mit Margarethe Moser, geführt von Beate Meyer, 14.2.94, S. 9. ↩︎
- Ebd., S. 18. ↩︎
- Vgl. Meyer, Beate: Fragwürdiger Schutz – Mischehen in Hamburg (1933–1945), in: Dies. (Hg.): Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933–1945. Geschichte, Zeugnis, Erinnerung, Hamburg 1997, S. 79–88, hier S. 83. ↩︎
- Vgl. Meyer: Die Deportation der Hamburger Juden 1941–1945, in: Dies. (Hg.): Die Verfolgung (wie Anm. 18), S. 42–78, hier S. 43. ↩︎
- Zu dieser Abteilung vgl. Friederike Littmann: Ausländische Zwangsarbeiter in der Hamburger Kriegswirtschaft 1939–1945, München 2006, S. 542–577. ↩︎
- Zit. n. ebd., S. 557. ↩︎
- Vgl. Bericht Harry Goldsteins über den Neuaufbau der Jüdischen Gemeinde vom Juni 1951, abgedruckt bei Uwe Lohalm (Hg.): „Schließlich ist es meine Heimat…“ Harry Goldstein und die Jüdische Gemeinde in Hamburg in persönlichen Dokumenten und Fotos, Hamburg 2002, Nr. 4, S. 60–63, hier S. 61. Zur Unterbringung von KZ-Überlebenden vgl. StAHH, 332–8 Meldewesen, 5-1, Film Nr. 2346, Hausmeldekarteieintrag Rothenbaumchaussee 38. Eine der Personen kam demnach aus Theresienstadt, zwei aus Buchenwald, eine aus Bergen-Belsen. Zwei Mal ist als Zuzugsort nur „K.Z.“ angegeben. ↩︎
- Vgl. Hans Lamm: Der Wiederaufbau der Hamburger Jüdischen Gemeinde nach 1945, in: Oskar Wolfsberg (Hg.): Die Drei-Gemeinde. Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden Altona-Hamburg-Wandsbek, S. 134–146, hier S. 138. ↩︎
- Bericht Harry Goldsteins (wie Anm. 22), S. 61. ↩︎
- Vgl. Geschäftsbericht des Gemeindevorsitzenden Harry Goldstein, 14.4.46, auszugsweise abgedruckt in: Lohalm (Hg.): „Schließlich“, S. 17. ↩︎
- StAHH, 522–2 Jüdische Gemeinden, 1396, Notice of Custody, 10.7.45. ↩︎
- Zu einer Interpretation dieses Fotos vgl. Hendrik Althoff: Umgang mit jüdischem Grundeigentum, Rothenbaumchaussee 38, in: Institut für die Geschichte der deutschen Juden (Hg.): Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. Eine Online-Quellenedition, https://schluesseldokumente.net/beitrag/althoff-rothenbaumchaussee38, letzter Zugriff am 27.11.24. ↩︎
- Vgl. Gesetz Nr. 59 vom 12. Mai 1949 der Militärregierung Deutschland – Britisches Kontrollgebiet – Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände an Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen, in: Amtsblatt der Militärregierung Deutschland – Britisches Kontrollgebiet 28, S. 1169. ↩︎
- Vgl. StAHH, 311–3 I Finanzbehörde I, Abl. 1989 305-2-1/181, UA Rothenbaumchaussee 38, Restitutionsantrag der JGH, 20.6.49, Bl. 1 ↩︎
- Zur Frage der Rechtsnachfolge vgl. Ina Lorenz: Gehen oder Bleiben. Neuanfang der Jüdischen Gemeinde in Hamburg 1945, Hamburg 2002, S. 27. ↩︎
- Vgl. Charles I. Kapralik: Reclaiming the Nazi Loot. The History of the Work of the Jewish Trust Corporation for Germany. A report, London 1962, S. 75. ↩︎
- Zur Arbeit der Nachfolgeorganisationen im Allgemeinen vgl. Jürgen Lillteicher: Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2007, S. 357–369. ↩︎
- Vgl. dazu grundlegend Brenner, Michael/Frei, Norbert: Konsolidierung, in: Brenner, Michael (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart, München 2012, S. 153–287, hier S. 139–150. ↩︎
- Zit. n. ebd., S. 213. ↩︎
- Zu dieser Auseinandersetzung vgl. Ayaka Takei: The „Gemeinde Problem“. The Jewish Restitution Successor Organization and the Postwar Jewish Communities in Germany, 1947–1954, in: Holocaust and Genocide Studies 16/2 (2002), S. 266–288. ↩︎
- Dan Diner: Im Zeichen des Banns, in: Brenner (Hg.): Geschichte (wie Anm. 33), S. 15–66, hier S. 27. ↩︎
- Zu den Gründungsfiguren der JGH und ihrer Motive vgl. Ina Lorenz: Wiederaufbau im „Land der Mörder“.
Die zwölf „Gründungsväter“ der Jüdischen Gemeinde, in: Linde Apel/Klaus David/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.): Aus Hamburg in alle Welt. Lebensgeschichten jüdischer Verfolgter aus der „Werkstatt der Erinnerung“, München 2011, S. 164–187. ↩︎ - Vgl. Bezirksamt Eimsbüttel – Zentrum für Wirtschaftsförderung, Bauen und Umwelt,Bau- und Grundstücksakten, Rothenbaumchaussee 38, Grundbuchauszug, 18.7.53, Bl. 41. ↩︎
- StAHH, 522–2 Jüdische Gemeinden, 1305, Protokoll der 5. Sitzung des Special Committee der JTC, 9.12.52. ↩︎