Alma Rosé Preisträgerin 2023, Lara Raabe, Roma im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess 1947/48. Narrative, Quellen und Historiographie.

Alma Rosé Preisträgerin 2023, Lara Raabe, Roma im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess 1947/48. Narrative, Quellen und Historiographie.

Die Anwälte der Anklage (links) und die Zuschauertribüne (rechts) beim Einsatzgruppen-Prozess.
Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Collections: 1994.A.037, RG-12.019, Fotonr. 09950.

Für sein 2009 publiziertes Gutachten zum nationalsozialistischen Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion hat Martin Holler erstmalig neues Material aus osteuropäischen Archiven erschlossen, das zuvor nicht zugänglich war. In seiner Studie kann er nachweisen, dass ab 1942 ein systematischer Völkermord an den sowjetischen Roma in Gang war, die als sogenannte „Zigeuner“ verfolgt und ermordet wurden.[1] In der Einleitung attestiert Holler früheren Studien, wie der von Donald Kenrick und Grattan Puxon, Wolfgang Wippermann sowie Michael Zimmermann, die sich allesamt auf deutsche Überrestquellen und Akten der Nürnberger Prozesse beziehen, eine schwache Quellengrundlage.[2] Grund dafür sei, so Holler, dass der Völkermord an den Roma in den Nürnberger Prozessen nur marginal thematisiert wurde und etwa in den Ereignismeldungen der Einsatzgruppen, eines der wichtigsten Beweismittel im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess, keine genauen Zahlenangaben überliefert sind.[3] Hinsichtlich des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses betont auch Hilary Earl, dass nicht-jüdische Opfer nur am Rande thematisiert wurden.[4] Auch der bereits erwähnte Wippermann moniert, dass der Mord an den Roma den Angeklagten des Einsatzgruppen-Prozesses zwar vorgeworfen wurde, jedoch nicht weiter zur Sprache kam.[5]

Hollers quellenkritischer Bemerkung ist im Kontext von quantitativen Forschungsfragen sicherlich zuzustimmen. Der Feststellung, Roma würden im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess kaum vorkommen, ist allerdings zu widersprechen.[6] Denn bei einer Durchsicht der Prozessakten des Einsatzgruppen-Prozesses wird deutlich, dass die Verfolgung und Ermordung von Roma hier durchaus thematisiert wurden.

Diese Thematisierung steht im Mittelpunk des vorliegenden Textes. Er fragt nach der Bedeutung von Roma im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess. Wie wurde über deren Verfolgung und Ermordung in der besetzten Sowjetunion gesprochen? Wie wurde diese gewertet? Und welche Dokumente und Beweismittel waren dabei bedeutsam?

Der sogenannte Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess, auch als Fall 9 oder offiziell Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Otto Ohlendorf und andere bezeichnet, war das neunte der zwölf Verfahren, die zwischen 1946 und 1949 vor dem amerikanischen Nuernberg Military Tribunals (NMT) verhandelt wurden.[7] Neben dem Hauptangeklagten Ohlendorf, Führer der Einsatzgruppe D und Amtschef im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), waren weitere 23 führende Angehörige der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit,[8] Kriegsverbrechen sowie wegen der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation angeklagt.Zwischen dem 15. September 1947 und dem 10. April 1948 hatten sich die Männer wegen ihrer Verbrechen im Zuge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941, dem „Unternehmen Barbarossa“, vor Gericht zu verantworten. Das Gericht verhängte in seinem Urteil die höchste Anzahl an Todesurteilen, die in den zwölf Verfahren je gefällt wurde.[9] 

Die Angeklagten waren während des Krieges in der Sowjetunion Teil der mobilen Einheiten, die zur schnellen Bekämpfung sicherheitspolitischer Gegner im Rücken der Front operieren sollten. In der Praxis bedeutete das die Ermordung von Juden, Roma, Kommunisten, (vermeintlichen) Partisanen, sogenannten „Asozialen“, Kranken und körperlich oder geistig behinderten Menschen. Die Operationsgebiete der vier Einsatzgruppen (A, B, C, D) orientierten sich nach den Armee- und Heeresgebieten, waren der Wehrmacht aber nur logistisch unterstellt. Ein Großteil des Führungspersonals der Einsatzgruppen, die kurz vor dem Überfall auf die Sowjetunion bei Pretzsch aufgestellt wurden, stammte aus dem RSHA.[10]  

In den Studien zum Einsatzgruppen-Prozess finden Roma bislang höchstens am Rande Erwähnung. Das liegt auch an der von Holler, Earl und Wippermann geteilten Annahme, sie kämen im Prozess nicht oder nur marginal zur Sprache. Eine Untersuchung, welchen Stellenwert Roma im Prozess einnahmen, steht demnach noch aus. Diese scheint umso bedeutsamer, da die Beweismittel und Themenschwerpunkte des Prozesses die historische Forschung zu den Verbrechen der Einsatzgruppen bis heute stark beeinflussen.

Auch nahezu alle nennenswerten Studien, die sich den Einsatzgruppen in der Sowjetunion widmen, beziehen sich direkt oder indirekt auf den Prozess. Der Einsatzgruppen-Prozess bildet ferner eine Quellengrundlage für die teilweise bereits erwähnte Historiographie zu der Verfolgung und Ermordung der Roma durch die Nationalsozialisten in der Sowjetunion.

Folgt man Earls These, dass bestimmte Narrative aus dem Prozess, wie der Verweis auf einen sogenannten „Führerbefehl“, von der Geschichtsschreibung übernommen wurden, so stellt sich im Hinblick auf den vorliegenden Text die Frage, inwiefern auch das Sprechen über die Ermordung von Roma im Prozess Eingang in die Holocaust-Historiographie gefunden hat. [11] Welche Narrative wurden übernommen? Welche Dokumente wurden besonders rezipiert und welche nicht?

Ausgehend von den oben aufgeworfenen Fragen sind also zwei Betrachtungsebenen von Bedeutung: Einerseits der Prozess selbst, samt Akteuren, andererseits die Forschungsliteratur, welche das Prozessmaterial als Quellengrundlage nutzt und für das vorliegende Vorhaben gewissermaßen selbst zur Quelle wird.

Zu den drei Hauptakteuren des Nürnberger Einsatzgruppen-Prozesses gehörten Anklage, Angeklagte und die Richter. Das Verfahren lief wie folgt ab: Verlesung der Anklage, Erklärung der Angeklagten ob schuldig oder nicht schuldig, Vorlage der Beweismittel durch Anklage und Verteidigung, Vernehmung der Zeugen und der Angeklagten, Plädoyers der Verteidigung und Anklage, Schlusswort der Angeklagten, Urteil und Strafe. Neben dem Kreuzverhör durch die An-klagevertretung und dem Verhör durch die Verteidigung waren auch die Richter befugt die Angeklagten und Zeugen zu befragen. Die Verhandlungen wurden zweisprachig geführt. Die Richter und die Ankläger sprachen Englisch, die Verteidiger und Angeklagten Deutsch. Sie wurden jeweils simultan übersetzt und ein Protokoll in beiden Sprachen geführt. 

Mitglieder des Anklageteams im Einsatzgruppen-Prozess, v.l.n.r. Benjamin B. Ferencz, Arnos Horlick-Hockwald, John E. Glancy
Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Souvenir Album 1940, Fotonr. 16814
.

Während des Verfahrens konnte die Anklage mehrmals ihren Standpunkt und für diesen untermauernde Argumente darlegen. Und zwar in der Anklageschrift, bei der Vorlage der Beweismittel, während der Kreuzverhöre sowie während der Eröffnungs- und Schlussplädoyers.

Sowohl in der Anklageschrift wie im Eröffnungs- als auch Schlussplädoyer wertete die Anklage die Mordaktionen der angeklagten SS-Führer als rassistischen, systematischen Genozid, der gleichermaßen auch die Morde an den Roma einschloss.[12] Laut Anklageschrift war ihre Hauptaufgabe folgende:

[…] to accompany the German Army into the eastern territories, and exterminate Jews, Gypsies, Soviet officials, and other elements of the civilian regarded as ‘inferior’ or ‘politically undesirable’. [13]  

Die vorsätzlichen Tötungen seien keine militärischen Mittel gewesen, wie von vielen Angeklagten behauptet. Vielmehr müssten sie als eigenständiges Kriegsziel verstanden werden und hätten auf einem langfristigen Plan beruht.[14] Der Grund für den Massenmord in der Sowjetunion habe, so die Ankläger weiter, in der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten gelegen.[15] Im Schlussplädoyer bringen die Ankläger diese Annahme auf den Punkt:

[…] to kill ‚defenseless people’ on the sole ground that they were Jews, Gypsies, or government or party officials.[16]

Diese Ansicht suchte die Anklage durch die Vorlage der Beweismittel und die Vernehmung der Zeugen – zu denen auch die Angeklagten gehörten, zu belegen.[17]

Dokument des Chefanklägers Benjamin Ferencz, in dem die Angeklagten im Einsatzgruppen
Fall mit ihrer Position, ihren Verbrechen, ihrer Verteidigung, den Anklagepunkten und dem Urteil aufgeführt sind.
Quelle:Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Collections: 1994.A.037, RG-12.019, Fotonr. 41619
.
Dokument des Chefanklägers Benjamin Ferencz, in dem die Angeklagten im Einsatzgruppen
Fall mit ihrer Position, ihren Verbrechen, ihrer Verteidigung, den Anklagepunkten und dem Urteil aufgeführt sind.
Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Collections: 1994.A.037, RG-12.019, Fotonr. 41620
.

Die 23 Angeklagten äußerten sich sowohl vor dem Prozess, in Vernehmungen, als auch während des Prozesses in den direkten Verhören und Kreuzverhören. Natürlich sprachen die Männer nur auf Nachfrage von der Ermordung der Roma, galt es ja, sich als so unbeteiligt wie möglich zu inszenieren. Sie versuchten, die Ermordung der Roma mit bekannten antiziganistischen Ressentiments zu rechtfertigen.

Hierzu gehört jedoch auch das gänzliche Abstreiten, dass am Beispiel von Lothar Fendler (Führer des Sonderkommandos 4b, Einsatzgruppe C) deutlich wird. Dieser wollte von den Exekutionen der Roma nichts gewusst haben.[18] Eine weitere Strategie der Angeklagten war, auf die angebliche Sicherheitsgefährdung durch die Roma zu verweisen. Der Hauptangeklagte Ohlendorf ließ sich beispielsweise darüber aus, dass bereits bei Friedrich Schillers und Ricarda Huchs Beschreibungen des Dreißigjährigen Kriegs Belege für durch Spionagetätigkeiten die Sicherheit gefährdende „Zigeuner“ zu finden seien.[19] Dabei lässt sich weder bei Schiller noch bei Huch das Motiv des „spionierenden Zigeuners“ ausmachen.

Der angeblich eindeutige „Führerbefehl“, welcher laut Angeklagten explizit auch die Ermordung der Roma-Bevölkerung miteingeschlossen habe, der von der Forschung jedoch mittlerweile widerlegt wurde, war den Männern gleich in zweierlei Hinsicht dienlich. Einerseits ließ sich damit die Schuld auf den Befehlsgeber abwälzen und auf einen Befehlsnotstand rekurrieren. Andererseits legitimierte der Befehl durch den daraus entstehenden Anschein von militärischer Notwendigkeit die Ermordung.  

Roma waren also Teil der Verteidigungsstrategie der Angeklagten. Dadurch, das wird sich zeigen, beeinflussten sie insbesondere das, was später in der Forschung über den Mord an den Roma geschrieben werden sollte.

Die Richter des Militärgerichtshofs II-A, die den Einsatzgruppen-Prozess verhandelten. V.l.n.r. John J. Speight, Michael A. Musmanno und Richard D. Dixon.
Quelle: United States Holocaust Memorial Museum, Collections: 1994.A.037, RG-12.019, Fotonr. 10210.

Die Richter, allen voran der vorsitzende Michael Musmanno, wiesen solche Rechtfertigungsbemühungen der Angeklagten deutlich zurück. Auch in der Urteilsbegründung hoben sie hervor:

The Einsatzgruppen were, in addition, instructed to shoot gypsies.[20]

Wobei sich die Erläuterungen hierzu auch bei den Richtern zwischen Wertschätzung und klassischen antiziganistischen Stereotypen bewegten:

No explanation was offered as to why these unoffending people, who through the centuries have contributed their share of music and song, were to be hunted down like wild game. Colorful in garb and habit, they have amused, diverted, and baffled society with their wanderings, and occasionally annoyed with their indolence, but no one has condemned them as a mortal menace to organized society. That is, no one but National Socialism which, through Hitler, Himmler, and Heydrich ordered their liquidation. Accordingly, these simple, innocuous people were taken in trucks, perhaps in their own wagons, to the antitank ditches and there slaughtered with the Jews and the Krimchaks. [21]

Einerseits wird hier auf die grundlose Ermordung der Gruppe hingewiesen, die als Teil der Kulturgeschichte angesehen wird. Andererseits bedient sich der überwiegende Teil der Ausführungen diskriminierender und romantisierender Klischees.

In der Forschung diente der Einsatzgruppen-Prozess als Ausgangspunkt für die Darstellung der Geschehnisse während des Krieges in der Sowjetunion und der Verbrechen der Einsatzgruppen. Wie eingangs bereits vorgeschlagen, lohnt es sich, zu untersuchen, inwiefern die oben dargestellte Thematisierung durch die drei Prozess-Akteure Eingang in die Historiographie gefunden hat.

In der einschlägigen Forschungsliteratur lassen sich zwei immer wiederkehrende Fragen ausmachen, anhand derer der Mord an den Roma in der Sowjetunion aufbauend auf den Prozessdokumenten aus dem Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess untersucht und interpretiert wird:

  1. Die Frage nach dem Auftrag der Einsatzgruppen und der den Morden zugrundeliegenden Befehlslage.
  2. Die Frage nach den Tötungsmotiven.

Die Forschung zum Krieg in der Sowjetunion scheint sich darüber einig zu sein, dass zu den Aufgaben der Einsatzgruppen auch die Ermordung der sowjetischen Roma gehörte. Hinsichtlich der Befehlslage lässt sich jedoch feststellen, dass in der Forschungsliteratur unterschiedliche Auffassungen herrschen, ob es einen, wie die Angeklagten immer wieder betonten, expliziten Auftrag an die Einsatzgruppen gab, auch Roma zu töten, oder ob diese, wie Wolfgang Wippermann schrieb, „wie selbstverständlich in den Massenmord einbezogen“[22] wurden.

In seiner Untersuchung aus dem Jahr 2000 zieht Guenther Lewy aus den Prozessdokumenten deutliche Schlüsse hinsichtlich einer Befehlsgebung bezüglich des Mordes an Roma. In seiner Betrachtung der Jahre 1939 bis 1942 formuliert er folgende Annahme:

According to the recollection of several participants, the RSHA officials informed the Einsatzgruppen officers that the Führer had ordered the liquidation of Jews, Communist functionaries and Gypsies on the grounds that they endangered the security of the troops.[23]

Der „Erschießungsbefehl“, der von Reinhard Heydrich, Leiter des RSHA, am 2. Juli 1941 erlassen wurde, habe die mündlichen Anweisungen schriftlich festgehalten.[24] Lewy macht hier deutlich, dass er sich auf Erinnerungen von Mitgliedern der Einsatzgruppen beruft. Dabei versäumt er jedoch zu erwähnen, dass es sich dabei um eidesstattliche Erklärungen im Rahmen des Einsatzgruppen-Prozesses handelt. Walter Blume (Führer Sonderkommando 7a, Einsatzgruppe B), einer der zwei Täter, auf deren Aussagen er sich bezieht, war sogar angeklagt und hatte somit ein größeres Interesse, auf einen erlassenen Befehl zu rekurrieren.  Dieser Umstand verleiht den Erklärungen einen anderen Kontext, der durchaus berücksichtigt werden sollte. Lewy folgt somit der Entschuldungsstrategie der Täter.

Wippermann kommt zu einem ganz anderen Schluss und schreibt in seinem 1992 publizierten Aufsatz:

Ein entsprechender Befehl dazu lag jedoch offensichtlich nicht vor. Dennoch wurden sowjetische Roma wie selbstverständlich in den Massenmord einbezogen, ohne daß darüber viel debattiert wurde.[25]

Dass Roma „wie selbstverständlich in den Massenmord einbezogen“[26] wurden, belegt er ebenfalls mit Äußerungen Ohlendorfs. Entgegen dem vorherigen Beispiel macht er deutlich, dass es sich bei seiner Quelle um Prozessaussagen des Hauptangeklagten Ohlendorfs handelt.[27] Somit legt er den Hergang seiner Interpretation dar und grenzt sich kritisch von den Aussagen des Angeklagten ab. Dennoch übernimmt er die Argumentation eines Täters.

Frappierend ist, dass sich die meisten Forscher allein auf die Unterlagen des Einsatzgruppen-Prozesses stützen und vielfach bedenkenlos der Argumentation der Angeklagten folgen. Damit beeinflussten insbesondere die Täter die später historiographisch verhandelten Narrative. So waren sie maßgeblich daran beteiligt, wie ihre Taten in die Forschung eingingen. Dagegen kamen Forscher, die ebenso andere Quellen auswerteten, entsprechend zu differenzierteren Beurteilungen.

In der Frage der Tötungsmotive findet sich in der Forschungsliteratur neben dem rassistischen Motiv ebenfalls das Sicherheitsmotiv wieder. Auch hier wird also eine von den Angeklagten im Prozess eingeführte Argumentation in die Forschung übernommen. Allerdings hat Michael Zimmermann in seinem Standardwerk „Rassenutopie und Genozid“ mit dem Befund, dass Verfolgung und Ermordung der Roma rassistisch motiviert waren, einen mittlerweile anerkannten historiographischen Konsens begründet. Er kommt zu folgendem Schluss:

Ohlendorf suchte den Mord an Juden und Zigeunern also mit dem Motiv der Sicherheit für die deutschen Truppen zu legitimieren. Die Struktur seiner Argumentation macht den rassistischen Charakter der Morde an Juden und Zigeunern aber offenkundig: Sie galten den Einsatzgruppen – spätestens seit Mitte August 1941 – durch ihre bloße Existenz in ihrer Gesamtheit als sicherheitsgefährdende ‚Elemente‘.[28]

Damit deutet Zimmermann darauf hin, dass Ohlendorfs Verteidigungsstrategie, nämlich zu versuchen, anhand von Klischeebildern zu zeigen, dass Roma die Sicherheit gefährden würden, im Grunde auf rassistischen Annahmen beruht.

Auf eine zweite Annahme Zimmermanns wird in der Historiographie besonders häufig verwiesen. Er vertrat die These, dass es sich bei dem Mord an den Roma zwar um einen rassistisch intendierten Völkermord handelte, dieser jedoch nicht systematisch gewesen sei. Eine Ausnahme wäre dabei jedoch der Mord der Einsatzgruppe D auf der Krim, denn dieser sei als durchaus systematisch anzusehen.[29] Dem folgen weitere Forscher, die den Stellenwert traditioneller antiziganistischer Ressentiments unterstreichen.

Wie eingangs bereits erwähnt, kann Holler hingegen mithilfe neuer, erweiterter Quellengrundlage aus osteuropäischen Archiven in seiner Studie nachweisen, dass ab 1942 durchaus ein systematischer Völkermord an sowjetischen Roma in Gang war. Die Ausnahme stellt die Ermordung der Roma auf der Krim dar, wo bereits 1941 eine systematische Ermordung der Roma-Bevölkerung stattfand.[30]

Die Wahl der Quellen hat, das konnte mit den obigen Ausführungen einmal mehr gezeigt werden, fundamentale Auswirkungen auf das Verständnis der nationalsozialistischen Verfolgung von Roma in der Sowjetunion. Mit den Dokumenten des Einsatzgruppen-Prozesses als alleinige Quellengrundlage, folgen die Beiträge der Themensetzung des Prozesses und der Fokussetzung der Prozess-Akteure, insbesondere der Angeklagten. Werden weitere Unterlagen hinzugezogen, erweitert sich der Blick und ein differenzierteres Urteil ist möglich.

Der Anstoß zur Verhandlung des Themas wurde durch die Anklagevertretung gegeben. Dennoch waren es die Angeklagten, die bis heute die Darstellung der Verfolgung und Ermordung der Roma in der Sowjetunion beeinflussen. Gleichzeitig wird damit deutlich, dass Roma eben durchaus eine Bedeutung im Einsatzgruppen-Prozess hatten. Einerseits sollten die Angeklagten für die an ihnen begangenen Morde bestraft werden. Andererseits versuchten sie selbst diese Taten abzustreiten, zu leugnen oder zu rechtfertigen. Dadurch äußerten sie sich zum Genozid an den Roma und gaben damit oftmals mehr über die Verfolgungspraxis preis als sie intendierten. Allzu oft war die Art und Weise, wie sie über die Roma sprachen jedoch als Teil einer Strategie kalkuliert. Genau diesen Umstand gilt es mit offener Quellenkritik und unter Berücksichtigung weiterer Quellen zu dekonstruieren.

Die Dekonstruktion bestimmter Sprechweisen und Narrative sowohl in den historischen Quellen selbst als auch in der wissenschaftlichen Literatur, kann unseren Blick auf Antiziganismus, Täterrechtfertigungen und akribische Quellenkritik schärfen.


[1] Holler, Martin: Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941 – 1944). Gutachten für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Heidelberg 2009. Bei dem Begriff „Zigeuner“ handelt es sich um eine Fremdzuschreibung, mit der sich die Verfolgten meist nicht identifizierten. Ferner wurden auch Menschen als sogenannte „Zigeuner“ verfolgt, die sich nicht der ethnischen Minderheit der Roma zugehörig fühlten. Da diese Verfolgungskategorie jedoch größtenteils auf die Verfolgung dieser Minderheit abzielte, gehe ich bei der Nennung des Quellenbegriffs „Zigeuner“ davon aus, dass dabei die Angehörigen der Minderheit betroffen waren.

[2] Vgl. ebd., S. 12-14.; Kenrick, Donald/Puxon, Grattan: Sinti und Roma – die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat. Göttingen 1981; Wippermann, Wolfgang: Nur eine Fußnote? Die Verfolgung der sowjetischen Roma: Historiographie, Motive, Verlauf, in: Meyer, Klaus/Wippermann, Wolfgang (Hrsg.): Gegen das Vergessen. Der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Frankfurt am Main 1992, S.75-90; Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung des Zigeunerproblems“. Hamburg 1996.

[3] Vgl. Holler: Völkermord an den Roma, S. 12-14.

[4] Vgl. Earl, Hilary: Beweise, Zeugen, Narrative. Der Einsatzgruppen-Prozess und die
historische Forschung zur Genese der „Endlösung“, in: Priemel Kim C./Stiller, Alexa (Hrsg.): NMT. Die
Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hamburg 2013, S. 127-157,
S. 140.

[5] Vgl. Wippermann: Nur eine Fußnote?, S.75-90.

[6] Holler widerlegt seine Behauptung im Verlauf seiner Studie gewissermaßen selbst. An wichtigen Stellen, etwa bei seinen Ausführungen zum Simferopoler-Massaker auf der Krim 1941, bezieht er sich durch Zimmermann indirekt sowie auch direkt auf Materialien aus dem Einsatzgruppen-Prozess. Da diese dabei für die Rekonstruktion der Ereignisse nahezu die einzige Quellengrundlage darstellen, sind sie für Hollers Untersuchung offensichtlich doch von Wert.

[7] Vgl. Priemel, Kim C./Stiller, Alexa: Wo „Nürnberg“ liegt. Zur historischen Verortung der Nürnberger Militärtribunale, in: Dies. (Hrsg.): NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hamburg 2013, S. 9-63, S. 9-11.

[8] Verbrechen gegen die Menschheit“ ist nach Arendt die treffendere Übersetzung des Anklagepunkts. Vgl. hierzu Arendt, Hannah: Eichmann. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2011 [1964], S. 398-400.

[9] Vgl. Earl: Beweise, Zeugen, Narrative, S. 127-129; Ogorreck, Ralf/Rieß, Volker: Fall 9. Der Einsatzgruppenprozess, in: Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952. Frankfurt 1999, S. 164-175, S. 164f.

[10] Vgl. Ogorreck, Ralf: Die Einsatzgruppen und die „Genesis der Endlösung“. Berlin
1996, S. 9-14; Kenrick/Puxon: Sinti und Roma, S. 103; Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das
Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg 2003, S. 538-553.

[11] Earl: Beweise, Zeugen, Narrative.

[12] Vgl. English Transcript, National Archives, RG 238, Mircofilm Publication M 895, Records of the United States Nuernberg War Crimes Trials United States of America v. Otto Ohlendorf et al. (Case IX), Trials, Rolle 2, S. 6-14; TWC IV, S. 369.

[13] English Transcript, NARA, Trials, Rolle 2, S. 4, S.6-8.

[14] Vgl. Ogorreck: Die Einsatzgruppen; Earl: Beweise, Zeugen, Narrative, S. 142-157.

[15] Vgl. ebd., S. 30f.

[16] TWC IV, S. 376.

[17] Vgl. etwa English Transcripts, NARA. Trials, Rolle 2, S. 629. 655, 658; Earl: SS-Einsatzgruppen Trial, S. 83-85, 179.

[18] Vgl. Eidesstattliche Erklärung Lothar Fendler (NO-4144), NARA, Trials, Rolle 9.

[19] English Transcripts, NARA, Trials, Rolle 2, S. 660.

[20] English Transcripts, NARA, Trials, Rolle 7, S. 6654.

[21] Ebd.

[22] Wippermann: Nur eine Fußnote?, S. 86.

[23] Lewy, Guenter: The Nazi Persecution of the Gypsies. Oxford 2000, S. 118.

[24] Vgl. ebd. Lewys Interpretation wird durchaus kritisch betrachtet. Anton Weiss-Wendt ist von dieser Auslegung beispielsweise nicht überzeugt und bezeichnet Lewys Belege als unzureichend. Er schlägt vor der Konklusion von Kenrick und Puxon zu folgen. Sie gehen davon aus, dass die Einsatzgruppen tatsächlich keinen derartigen verbindlichen Befehl hatten, aber auch bei eine nicht-ausdrücklichen Nennung der Roma, sei die Zielrichtung des Auftrags für die Männer der Einsatzgruppen klar gewesen sei. Kenrick/Grattan: Sinti und Roma, S. 102.

[25] Wippermann: Nur eine Fußnote?, S. 86.

[26] Ebd.

[27] Er bezieht sich auf eine eidesstattliche Erklärung vom 2. April 1947. Vgl. Eidesstattliche Erklärung Ohlendorf, 2. April 1947 (NO-2856), NARA, Trials, Rolle 10.

[28] Zimmermann: Rassenutopie und Genozid, S. 261.

[29] Vgl. ebd., S. 263f.

[30] Vgl. Holler: Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma, S. 12-14, 109-111.

Scroll to Top