Die Inventare der Ermordeten auf der Strecke von Diebersried nach Pösing, Landkreis Roding – Michael Eder und Michael Holek
Die Aufarbeitung der Todesmärsche in der Oberpfalz und in Niederbayern, die kurz vor der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands im April 1945 ihre Anfänge im Konzentrationslager Flossenbürg nahmen, ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Die archäologische Aufarbeitung der bei den ermordeten Häftlingen dokumentierten Objekte liefert Rückschlüsse zu Überlebensstrategien innerhalb des Lagers und auf den Todesmärschen. Dabei spielen vor allem die Aufrechterhaltung der eigenen Körperhygiene und der individuellen Identität eine wichtige Rolle. Die statistische Auswertung und Klassifizierung der materiellen Kultur von Inhaftierten liefert Informationen zur Relevanz jener Objekte, die in Zeitzeug*Innenberichten von den Opfern des nationalsozialistischen Terrors nur in den seltensten Fällen erwähnt werden.
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit einem Teil der Objekte, die bei den Ermordeten der Todesmärsche aus Flossenbürg aufgefunden wurden. Die Häftlinge selbst fand man auf einer elf Kilometer langen Strecke zwischen Diebersried und Pösing im Landkreis Cham, wo sie am Weg ermordet, am Straßenrand eilig verscharrt und liegen gelassen wurden. Die persönlichen Besitztümer der Verstorbenen wurden in Kategorien eingeteilt und in einen archäologischen Kontext gestellt. Hierbei bilden die Protokolle einer Untersuchungskommission des International Tracing Service (ITS), welche sich ab Oktober 1945 mit der Exhumierung der Ermordeten und der Aufarbeitung der Ereignisse beschäftigte, eine wichtige Basis.
Begriffsdefinition und Historische Einordnung
Bei den sogenannten Todesmärschen handelt es sich um jegliche Art von Räumungstransporten von Inhaftierten aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkrieges. Diese wurden jedoch nicht nur zu Fuß ausgeführt. Vielmehr wurden für den Transport der Häftlinge ins Landesinnere des Deutschen Reiches eine Vielzahl von unterschiedlichen Transportmöglichkeiten wie Züge, Schiffe, Lastkraftwagen und Fuhrwerke eingesetzt. Diese wurden in den allermeisten Fällen, je nach Route und existenter Infrastruktur, kombinatorisch eingesetzt. Ihren prägnanten Namen erhielten die Todesmärsche, von den Nationalsozialisten als „Evakuierungen“ bezeichnet, durch die hohe Mortalität der zur Teilnahme gezwungenen Personen. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass im letzten Kriegsjahr in etwa 250.000 Menschen, also ein Drittel der Inhaftierten von Zwangslagern, auf Todesmärschen ihr Leben ließen. Mindestens 100.000 davon dürften von den Nationalsozialisten als jüdisch deklarierte Häftlinge gewesen sein. Die hohe Zahl an Verstorbenen lässt sich zum einen auf die lebensfeindlichen Umstände während dieser Märsche zurückführen. Viele Inhaftierte starben aufgrund von Erschöpfung, verhungerten, erfroren oder fielen Krankheiten und Seuchen zum Opfer. Zum anderen wurden gezielt Menschen, die mit dem Marschtempo nicht mithalten konnten oder versuchten zu flüchten, unter anderem erschossen, erschlagen oder lebendig begraben. Direkt im Anschluss an die Befreiung verschickte Umfragebögen an die lokale Bevölkerung, Interviews mit Überlebenden und die durchgeführten Exhumierungen konnten nur begrenzt Einblicke in die Realität der Todesmärsche, zu Marschrouten, den Todesursachen und der Zahl der Verstorbenen geben. Da die ansonsten sehr ausführliche nationalsozialistische Bürokratie zu dieser Zeit bereits kollabierte, kann die tatsächliche Zahl der Verstorbenen wohl auch in Zukunft nur annähernd ermittelt werden. [1]
Die Anfänge der Todesmärsche aus Flossenbürg gehen auf Anfang April des Jahres 1945 zurück. Zu dieser Zeit begannen die Vorbereitungen zur Auflösung des Konzentrationslagers Flossenbürg. Zuallererst wurden sogenannte „prominente Gefangene“ in südlich gelegenere Lager gebracht. Am 17. April brach die erste größere Häftlingsgruppe, die aus rund 2000 Männern bestand, in Richtung Dachau auf. Insgesamt dürften wohl in etwa 15.000 Menschen von Flossenbürg aus auf die Todesmärsche geschickt worden sein. Hunderte marschunfähige Menschen wurden im Lagerkomplex zurückgelassen. Die großen Häftlingsgruppen bewegten sich meistens nachts und wurden dabei in kleinere Verbände aufgeteilt. Viele dieser kleinen Gruppen kreuzten, überholten und vereinten sich mit anderen Untergruppen, was eine genaue Rekonstruktion der Marschrouten nahezu unmöglich macht. Die hinterherfolgenden amerikanischen Truppen konnten bis zur Befreiung der Marschkolonnen bereits rund 5000 hastig verscharrte Leichen von Häftlingen dokumentieren.[2] [3] [4] Zahlreiche weitere Ermordete wurden in den darauffolgenden Wochen und Monaten exhumiert.
Exhumierungen
Aufgrund der immensen Masse an durchgeführten Exhumierungen werden in diesem Beitrag lediglich die Berichte des ITS (International Tracing Service) im Landkreis Roding auf einer in etwa elf Kilometer langen Strecke von Diebersried bis nach Pösing[5] behandelt. Diese wurden von der „Exhumations- und Identifikationskommission für ermordete ehemalige Häftlinge deutscher Konzentrationslager im Kreis Roding, Oberpfalz“ koordiniert und durchgeführt. Ihr Leiter, Dr. Tadeusz Wolanski, und alle fünf weiteren leitenden Kommissionsmitglieder wurden selbst als ehemalige Häftlinge zur Teilnahme an den Todesmärschen aus Flossenbürg gezwungen. Die Exhumierungen wurden im Oktober 1945, also sechs Monate nach der Deponierung der Ermordeten, durchgeführt. Der zitierte Bericht wurde am 3. Mai 1946 veröffentlicht.[6] Bei der Durchführung der Exhumierungen wurde vor allem auf folgende Aspekte geachtet: Identifikation des Leichnams, die mögliche Feststellung einer Todesursache und die Beschauung der Kleidung und deren Tascheninhalte.[7]
Die Identifikation des Leichnams konnte vor allem durch die auf die Kleidung aufgenähte Häftlingsnummer durchgeführt werden. Methodische Probleme beziehungsweise Unklarheiten ergaben sich dann, wenn Ermordete mehrere Kleidungsstücke mit verschiedenen Häftlingsnummern trugen. Eine genaue Zuordnung ist in diesem Fall nur durch weitere Indizien möglich. Darüber hinaus konnte durch Kennzeichen von Häftlingen wie zum Beispiel Winkel und verschiedenfarbige Streifen nicht nur die Häftlingsgruppe, sondern auch das Konzentrationslager bestimmt werden, in dem die Ermordeten zunächst registriert waren. Weitere Identifizierungsmöglichkeiten gaben die Tascheninhalte: Vereinzelt vorkommende Brieftaschen mit persönlichen Informationen, Adressbücher oder nicht abgeschickte Briefe an Angehörige konnten dafür verwendet werden, über Umwege die Identifikation der Toten zu bewerkstelligen.[8] Die Feststellung der Todesursache erwies sich zum Zeitpunkt der Exhumierung, aufgrund des bereits eintretenden Verwesungs- bzw. Skelettierungsprozesses in vielen Fällen als schwierig. Fest steht jedoch, dass von den 597 Exhumierten auf der Strecke von Diebersried nach Pösing 364 durch Erschießungen starben. Davon zeugen verschiedenste Schussverletzungen, die sich vor allem im Kopf oder Nackenbereich fanden. 44 Menschen starben durch die Einwirkung stumpfer Gewalt, vermutlich v.a. durch gezielte Schläge mit Gewehrkolben. Bei 24 Toten konnte eine Erstickung durch Erdverschüttung von den anwesenden Ärzten attestiert werden. Blau angelaufene Gesichter zeugten davon, dass sie vermutlich lebendig begraben wurden. Bei acht weiteren konnte dies aufgrund des Verwesungszustandes nicht mehr mit eindeutiger Sicherheit festgestellt werden. 19 Toten wurde als Todesursache eine allgemeine Körperschwäche durch Krankheit oder Erschöpfung zugeschrieben. In 138 Fällen konnte die Todesursache nicht eindeutig geklärt werden.[9]
Der Fokus der folgenden Ausführungen wird nun auf der Analyse der Fundobjekte liegen, die bei den Taschenbeschauungen dokumentiert wurden. Insgesamt konnten bei den Exhumierungen der Toten von Diebersried nach Pösing 1038 Objekte sichergestellt und in Listen dokumentiert werden. Durch die Interpretation dieser materiellen Hinterlassenschaften können diverse Rückschlüsse auf Überlebensstrategien der Häftlinge innerhalb des Lagers bzw. auf den Todesmärschen gezogen werden.
Ausgewählte Fundkategorien
In den folgenden Zeilen sollen einige ausgearbeitete Fundkategorien näher beleuchtet, durch Vergleichsfunde eingeordnet und letztendlich archäologisch in einen Kontext gestellt werden. Zu den ausgewählten Fundgattungen gehören etwa jene Gegenstände, die zu den größten Auffindungsgruppen, nämlich die des Bestecks und der Hygieneartikel gezählt werden können. Außerdem werden persönliche und religiöse Gegenstände als Fundgruppen definiert und im Zuge dieser Arbeit wissenschaftlich bewertet, da vor allem diese Fundkategorien zur Fragestellung in Hinsicht auf die Beibehaltung der eigenen Identität von essenzieller Bedeutung sind.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass die angegebenen Fundobjektzahlen in den folgenden Unterkapiteln nur einen Großteil der aufgefundenen Gegenstände abbilden, nämlich den Besitz von 565 der 597[10] exhumierten Menschen (Abb.2).
Besteck
Mit insgesamt 392 Stück macht die Gruppe des Bestecks die größte Fundkategorie aus. Am häufigsten anzutreffen war hierbei die Objektgruppe der Löffel, von denen in Folge der Exhumierungen 247 Stück ausgemacht werden konnten. Aus dem archäologischen Fundspektrum in ehemaligen deutschen Konzentrationslagern wissen wir, dass Utensilien zur Nahrungsaufnahme, hierzu zählen ein Becher, ein Napf und ein Löffel, zu dem Eigentum eines Inhaftierten gehörten. Es verwundert daher nicht, dass Löffel in einer so großen Stückzahl vorgefunden wurden, wenn man bedenkt, wie essenziell sie für das Zuführen von Essen waren. Andererseits waren spitze oder scharfe Gegenstände wie Gabeln oder Messer strengstens verboten, sodass Löffeln eine noch größere Bedeutung bei der Nahrungsaufnahme zugeschrieben werden kann. Umso erstaunlicher ist es, wenn man unter Berücksichtigung des Verbots von spitzen beziehungsweise scharfen Gegenständen die restlichen Fundobjekte, die unter die Kategorie des Bestecks fallen, betrachtet. Diese bestehen nämlich zu einem großen Teil aus Messern. Die Taschenmesser bilden mit 90 Stück die zweithäufigste Gruppe nach den Löffeln, gefolgt von 50 normalen und drei selbstgemachten Messern. Eine Gabel und ein Kartoffelschäler, sind die einzigen Objekte, die keine Messer, sehr wohl aber spitze Gegenstände sind. Es stellt sich nun die Frage, wie diese Gegenstände so zahlreich in Besitz der gefangenen Menschen gelangen konnten. Die Frage der selbstgemachten Messer lässt sich etwas einfacher beantworten, als die der gewöhnlichen Exemplare. Es ist bekannt, etwa aus diversen Zeitzeugenberichten, dass, nachdem den Menschen ihr persönlicher Besitz bei der Einweisung in ein Konzentrationslager bis auf wenige Dinge abgenommen wurde, die Häftlinge durchaus bestimmte Gegenstände, wie zum Beispiel Schmuck, Schreibutensilien, allgemeine Gegenstände zur Freizeitbeschäftigung oder eben auch Messer selbst hergestellt haben (Abb. 3). So ist es nicht unwahrscheinlich, dass der ein oder andere Gefangene selbst angefertigte Objekte mit sich genommen hat, als die Auflösung des Lagers beschlossen wurde.[11] In Bezug auf die geringe Anzahl der selbst hergestellten Messer ist außerdem darauf hinzuweisen, dass in den Exhumierungsberichten möglicherweise nicht alle als „selbstgemachte Messer“ identifiziert bzw. klassifiziert wurden und die tatsächliche Zahl der selbstgemachten Exemplare dadurch höher sein könnte. Eine erneute Begutachtung der Objekte könnte hier Aufschluss geben und gilt als wünschenswert.
Mit Blick auf die restlichen Messertypen ist eine Einordnung doch etwas schwieriger. Eine mögliche Erklärung könnte in der Auflösung des Lagers liegen. Mit dem Näherrücken der US-Armee aus westlicher Richtung und dem dadurch entstandenen Zeitdruck konnte die Lagerleitung die üblichen Einweisungsprozesse neuer Häftlinge nicht mehr aufrechterhalten. Die Menschen wurden nicht wie üblich durchsucht und mussten in weiterer Folge auch nicht ihr Eigentum abgeben. Alle, die gesundheitlich im Stande waren, wurden gleich auf die ,,Evakuierungsmärsche‘‘ geschickt. Die Gefangenen sollten so schnell es ging in Richtung Süden gebracht werden, um den Amerikanern nicht in die Hände zu fallen. Eine weitere Erklärung könnte auch sein, dass Häftlinge diese Gegenstände auf dem Weg aufgefunden und behalten haben, etwa in diversen Übernachtungsunterkünften wie Scheunen und ähnlichen Räumlichkeiten.
Hygieneartikel
Insgesamt konnten dieser Kategorie auf der Strecke von Diebersried nach Pösing 118 Objekte zugewiesen werden. Unter ihnen befinden sich 54 Rasierutensilien (Rasierhobeln, Rasierklingen, Rasierpinsel), 28 Spiegel, 12 Kämme, 7 Zahnbürsten, 4 Tuben Zahncreme, 4 Stück Hartseife, 3 Bürsten, 2 Seifentuben, eine Feile, ein Taschentuch, eine Pinzette und ein Schwamm.
Bedauerlicherweise finden sich in den Exhumierungsberichten in den allermeisten Fällen, bis auf eine Ausnahme[12], keinerlei Informationen darüber, ob die Gegenstände industriell oder in Handarbeit produziert wurden. Auf Basis von modernen archäologischen Forschungen und der damit zusammenhängenden umfangreichen Dokumentation in Zwangsarbeitslagern des 20. Jahrhunderts kann jedoch davon ausgegangen werden, dass viele der in den Exhumierungsberichten angeführten Hygieneartikel in Handarbeit hergestellt wurden. Hierbei wären vor allem die Kämme und Zahnbürsten (Abb. 4) zu nennen. Mit der Herstellung dieser Gegenstände konnten die Inhaftierten sicherstellen, dass sie zumindest ein Mindestmaß an Körperhygiene beibehalten konnten. Dieses Mindestmaß an Körperhygiene war neben der Sicherung der Identität maßgeblich dafür verantwortlich, ob der Lebenswille aufrechterhalten werden konnte oder nicht. Überlebende der Konzentrationslager berichteten, dass die Aufrechterhaltung dieses Lebenswillens in einem System, das auf Erniedrigung und Gewalt aufgebaut ist, essenziell für die tatsächliche Überlebenschance war. Zu erwähnen gilt auch, dass sowohl die industriell als auch die in Handarbeit hergestellten Kämme aus nationalsozialistischen Zwangslagern beinahe niemals vollständig erhalten blieben. Der Grund dafür liegt mitunter darin, dass die Kämme intentionell gebrochen wurden, um sie mit anderen Inhaftierten zu teilen. Kämme sind also nicht nur ein Indikator für die Aufrechterhaltung der Hygiene und des damit verbundenen Lebenswillens, sondern auch ein Indikator für die Solidarität und gegenseitige Hilfe unter Häftlingen.[13]
Manche Objekte, wie zum Beispiel diverse Rasierutensilien, können zusätzlich dazu verwendet werden, das biologische Geschlecht der Opfer zu bestimmen. So gelten zum Beispiel die genannten Rasierer als geschlechtstypisch männlichen Personen zuordenbare Objekte.[14]
Persönliche Gegenstände
Die insgesamt 35 Objekte, die der Kategorie der persönlichen Gegenstände zugeordnet werden können, setzen sich aus 14 Schmuckstücken, 14 Geldbörsen, drei Mundharmonikas, zwei Uhren, einer Brosche und einer Uhrkette zusammen.[15]
Grundsätzlich musste ein Großteil der persönlichen Gegenstände bei der Einweisung in ein Konzentrationslager abgegeben werden. Diese Gegenstände wurden anschließend in der sogenannten „Effektenkammer“ von den Nationalsozialist*Innen verwahrt. Sowohl Zeitzeugenberichte als auch der archäologische Fundbestand zeigen, dass Inhaftierte in ihrer geringen Freizeit Schmuckobjekte wie Kettenanhänger und dergleichen selbst herstellten.[16] Gegenstände dieser Art wurden oft mit den persönlichen Initialen oder verschiedensten Motiven wie Herzen, Blumen, Booten und anderen Symbolen verziert. Dies dürfte wohl vor allem zur Bewahrung der eigenen Identität gedient haben. Durch das Eingravieren politischer oder religiöser Symbolik können die Opfer in einigen Fällen auch einer bestimmten Häftlingsgruppe zugeordnet werden.[17]
Des Weiteren ermöglichten prägnante Schmuckstücke, Uhren und Broschen im Falle einer starken Gesichtsdeformation durch Einschusslöcher oder stumpfe Gewalt, aber auch durch einen bereits stark vorangeschrittenen Verwesungsprozess, eine spätere Identifikation der Ermordeten durch ehemalige Mithäftlinge oder Angehörige, die das besagte Objekt einer bestimmten Person zuordnen konnten. Auch nicht verschickte Briefe oder Notizzettel mit Adressen innerhalb von Brieftaschen wurden für die Identifikation der Toten herangezogen.[18]
Musikinstrumente wie die drei Mundharmonikas verweisen darauf, dass das Musizieren in den Lagern mancherorts nicht nur toleriert, sondern teilweise von der Lagerleitung sogar gefördert wurde. Zeitzeugenberichte sprechen von Musikabenden, bei denen Häftlinge für das Lagerpersonal musizierten und sangen. Darüber hinaus stärkte das oft heimlich durchgeführte, gemeinsame Musizieren das Durchhaltevermögen und den Gruppenzusammenhalt der Häftlinge und half sowohl den Professionellen- als auch den Amateurmusiker*Innen dabei, ihre Identität zu bewahren.[19]
Religiöse Gegenstände
Die Gruppe der religiösen Gegenstände umfasst insgesamt 15 Objekte. Sie setzt sich aus 10 religiösen Anhängern, vier jüdischen Gebetsbüchern und einem Gebetsbuch in französischer Sprache zusammen.[20]
Leider gibt es auch hier in den meisten Fällen keine näheren Ausführungen, um welche religiösen Anhänger es sich im speziellen gehandelt hat. In Frage kommen zumindest jüdisch konnotierte Davidsterne, christlich konnotierte Kreuze und diverse Heiligenbilder wie Marienmedaillons. Religiöse Gegenstände im Kontext von Exhumierungen machen es möglich, verschiedene Opfergruppen sichtbar zu machen. In einigen Fällen kann lediglich die Konfession festgestellt werden. Findet sich aber zum Beispiel ein Heiligenbild bei der ermordeten Person, so kann davon ausgegangen werden, dass es sich um jemanden gehandelt hat, der einen römisch-katholischen Glauben hatte.[21] In einem konkreten Fall wurde in den Exhumierungsberichten die Frage aufgeworfen, ob es sich bei einer Person, die neben weiteren Objekten auch eine große Medaille mit Marienanhänger bei sich trug, um einen Priester gehandelt haben könnte.[22] In diesem Fall kann der Person möglicherweise auch eine Profession zugeordnet werden.
Darüber hinaus kann die Sprache des Gebetsbuch, wie in diesem Fall Französisch, Aufschluss darüber geben, welcher Nationalität die Person angehörte.
Fazit
Die Aufarbeitung der materiellen Hinterlassenschaften der auf den Todesmärschen ermordeten Menschen aus dem Konzentrationslager Flossenbürg und anderer Lagerkomplexe steht erst am Anfang. Die Zeugnisse vom letzten Besitz der unzähligen Häftlinge, die ihr Leben auf den verschiedensten Routen Richtung Süden verloren, geben einen Einblick in eine Zeit, die von Leid und Trauer durchzogen war. Sie geben Einblicke in Entscheidungen von Menschen, die gegen ihren Willen und in der Willkür der nationalsozialistischen Ideologie ausgewählt, in Lagern eingesperrt, auf unmenschliche Weise ausgebeutet und ermordet wurden. In Ungewissheit stehend, was während und was nach den ,,Evakuierungsmärschen‘‘ kommen soll: welche Gegenstände werden von den Gefangen ausgewählt und mit auf den Weg genommen? Durch die archäologische Auswertung dieser Inventare können Fragen zur Religions- oder Häftlingsgruppenzugehörigkeit, der Identitätsbewahrung und weiteren Überlebensstrategien beantwortet werden. Vor allem aber kann sie in einigen Fällen zunächst anonymisierten Leichen ihre gestohlene Identität und ihren Namen zurückgeben.
Literaturverzeichnis & Quellenverzeichnis
Quellen:
Arolsen Archives [letzter Zugriff am 29.9.2024]
Werner 2015
Robert Werner, 2015: Die namenlosen Toten von Wetterfeld. Abgerufen unter: https://www.regensburg-digital.de/die-namenlosen-toten-von-wetterfeld/25092015/ [Letzter Zugriff am 28.09.2024]
Winter 2020
Martin Clemens Winter, 2020: Todesmärsche (1945). Abgerufen unter: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Todesm%C3%A4rsche_(1945)#Todesm%C3%A4rsche_nach_Flossenb%C3%BCrg_und_Dachau [Letzter Zugriff am 28.09.2024]
Literatur:
Heim et alii 2018
Susanne Heim, Ulbrich Herbert, Michael Hollmann, Horst Möller, Dieter Pohl, Sybille Steinbacher, Simone Walther-von Jena und Andreas Wirsching, Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45. In: Verfolgung und Ermordung der Juden 1933-1945, Band 16. Berlin/Boston 2018.
Juliane Haubold-Stolle, Thomas Kersting, Claudia Theune. Christine Glaunig, Andrea Riedle, Franz Schopper, Karin Wagner und Axel Drecoll (Hg.), Ausgeschlossen: Archäologie der NS-Zwangslager. Berlin-Brandenburg 2020.
KZ Gedenkstätte Flossenbürg OJ
KZ Gedenkstätte Flossenbürg, Konzentrationslager Flossenbürg 1938-1945: Ausgewählte Texte und Bilder der Ausstellung zur Lagergeschichte. Flossenbürg OJ.
Theune 2018
Claudia Theune, A shadow of war: Archaeological approaches to uncovering the darker sides of conflict from the 20th century. Leiden 2018.
Theune 2024
Claudia Theune, Archäologische Möglichkeiten zu Erkennung von NS-Opfergruppen. In: Anna-Elisabeth Awad-Konrad, Hubert Ilsinger, Florian M. Müller und Elisabeth Waldhart (Hg.).Opfer der eigenen Begeisterung. Festschrift für Harald Stadler zum 65. Geburstag. 643 – 652. Brixen 2024.
[1] Heim et alii 2018, 55f.
[2] KZ Gedenkstätte Flossenbürg OJ, 33f..
[3] Werner 2015
[4] Winter 2020
[5] Arolsen Archives, DOC ID 84619790.
[6] Arolsen Archives, DOC ID 84619794.
[7] Arolsen Archives, DOC ID 84619795.
[8] Arolsen Archives, DOC ID 84619796.
[9] Arolsen Archives, DOC ID 84619795.
[10] Arolsen Archives, DOC IDs 84619713 – 84619788.
[11] Theune 2024. S. 6f.
[12] Arolsen Archives, DOC ID 84619786.
[13] Theune 2018, 127 – 131.
[14] Theune 2024, 643 – 652.
[15] Arolsen Archives, DOC IDs 84619713-84619788.
[16] Theune 2024, 643 – 652.
[17] Theune 2018, 130f.
[18] Arolsen Archives, DOC ID 84619796
[19] Haubold-Stolle et alii 2020, 121.
[20] Arolsen Archives, DOC IDs 84619713-84619788
[21] Theune 2024, 643 – 652.
[22] Arolsen Archives, DOC ID 84619730