Alma Rosé Sonderpreisträgerinnen 2025,
Helen Emily Davy und Katharina Mayrhofer:
Der Tisch, der uns nicht gehört.
… Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung! …1
Das Projekt „Der Tisch, der uns nicht gehört.“ handelt von einem Alltagsgegenstand, der laut Familienüberlieferungen, in den späten 30er Jahren in den Familienbesitz der österreichischen Künstlerin Katharina Mayrhofer gelangte. Er stammt aus dem Schloss Ranshofen und erzählt von genau diesen kleinen Schritten. Dieser schwarz lackierte Tisch gehörte einst den Vorfahr:innen der britischen Künstlerin Helen E. Davy, der Familie Wertheimer. Diese Familie erwarb im Jahr 1851 das ehemalige Augustiner Chorherrenstift und baute es in der Folge zu einem landwirtschaftlichen Vorzeigebetrieb um, örtlich bekannt als Schloss Ranshofen.

In den frühen 30er Jahren lebten die drei Wertheimer Schwestern, Anna, Emilie und Gabrielle mit ihren Familien jeweils in Hamburg, Wien und der oberösterreichischen Gemeinde Bad Wimsbach. Sie bewohnten das Privathaus jährlich in den Sommermonaten mit ihren Familien. Im Jahr 1938 waren die drei Wertheimer Schwestern im Besitz des Hälfteanteils von Schloss Ranshofen, den dazugehörigen Liegenschaften sowie der angeschlossenen Landwirtschaft. Durch die politischen Ereignisse im März 1938 verloren die drei Schwestern jegliche Einflussnahme auf die Geschäftsführung. Sie mussten die Plünderung des Privathauses sowie die systematische Enteignung durch das NS-Regime hinnehmen und waren zur Flucht gezwungen.
Die von den Nationalsozialist:innen aufgebaute NS-Gesetzgebung und Infrastruktur ermöglichte die Entrechtung und den Raub an bestimmten Bevölkerungsgruppen auf vielen verschiedenen Ebenen. Angefangen von systematischer Enteignung, über erzwungene Verkäufe, Beschlagnahmungen und Pfändungen.
Betroffen waren nicht nur kulturgeschichtlich oder kunsthistorisch wertvolle Gegenstände, der größte Teil entzogener Dinge waren Alltags- und Gebrauchsgegenstände. Ihre Stückzahl geht in die Millionen – exakte Zahlen fehelen. Diese alltäglichen Gegenstände dienten zur Deckung unterschiedlicher Bedürfnisse und betrafen Dinge wie Kleidung, Möbel, Hausrat oder Arbeitsgeräte. Nur Weniges konnten betroffene Menschen bis 1942 behalten, danach durften sie nichts mehr besitzen. Kathrin Pallestrang, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Volkskundemuseums Wien, beschreibt in ihrem Katalogtext zur Ausstellung „Gesammelt um jeden Preis!“, wie diese Dinge viel mehr sind als nur ein Mittel zur Deckung von Grundbedürfnissen. Sie bilden ein Netz aus verschiedenen Bedeutungen und Funktionen, sozialen, symbolischen, kollektiven und individuellen. Sie beschreibt Dinge als Materialisierung von Gefühlen, von Erinnerungen, von Sinnzusammenhängen und von Status.2
… Der Verlust dieser Dinge gefährdet nicht nur das Überleben, sondern auch die Selbstgewissheit. Mit der Aneignung von Dingen haben die Nationalsozialist*innen und ihre Nutznießer*innen sich nicht nur materiell bereichert. Sie ist Teil der systematischen Demütigung.3
Die drei Schwestern
Nach ihrer Flucht aus Österreich nach Großbritanien hielten Stefan und Emilie Jellinek (geb. Wertheimer) und deren Sohn Ernst in zwei Gedächtnisprotokollen, jeweils 1940 und 1947, detailliert fest, wie sie in der Zeit nach dem „Anschluss“ Österreichs schrittweise jegliche Kontrolle über ihr Eigentum verloren hatten.
… Die Wirtschaft des Gutes war in den Jahren 1937-38 auf ihren früheren Hochpunkt zurückgebracht worden, es geriet aber alles durch die politischen Ereignisse des März 1938 vollkommen ins Stocken. Von da ab konnten die Besitzer auf die Führung der Geschäfte nicht nur keinen Einfluss nehmen, sondern sie mussten es ruhig hinnehmen, dass von unberufenen Elementen Verfügungen getroffen wurden, die sie zu verhindern nicht im Stande waren. Die Besitzer wussten nicht nur nicht, was mit den Geldeingängen von dem Verkauf der Ernte und anderen Produkten geschah, sie konnten es auch nicht verhindern, dass im Sommer 1938 die Ställe sich zu leeren begannen und dass sie von jeglicher Geschäftsführung ausgeschaltet wurden. So geschah es im Sommer 1938, dass das Wohnhaus, in welchem sich Privateigentum befand, von fremden Elementen besetzt wurde, dass sogar Kästen erbrochen und Wäsche und Einrichtungsgegenstände weggeschleppt wurden. Für das Gut wurde ein „kommissarischer Verwalter“ eingesetzt, der den Besitzern über den Betrieb und über die Geldwirtschaft keinerlei Mitteilung zukommen liess. …4
Aus dem Gedächtnisprotokoll der Jellineks und der Diplomarbeit von Andrea Kugler geht im Detail hervor, dass Stefan und Emilie gezwungen wurden, ihren Besitz in Ranshofen und Braunau zu einem Bruchteil des Wertes an die Sparkasse Braunau und Sparkasse Ried i. I. zu verkaufen.
Unter der Drohung der sofortigen Inhaftnahme von Stefan Jellinek, verlangten die Sparkassenvertreter den sofortigen Verkauf der Anteile der drei Schwestern und pressten einen „mündlichen“ Vertrag ab. Darin mussten sich die Schwestern bereit erklären, ihre Anteile um je RM 45.000 zu verkaufen. Der wahre Wert soll bei einer wenige Jahre zuvor vom Amtsgericht vorgenommenen Schätzung bei RM 100.000 je Anteil der drei Schwestern gelegen sein. Der den Jellineks weit unter Wert aufgezwungene Verkaufspreis wurde nie ausbezahlt. Nach Abzug von „Reichsfluchtsteuer“ und Judenvermögensabgabe“ wurde der Restbetrag auf ein Auswanderersperrkonto überwiesen, auf welches die drei Wertheimer-Schwestern keinen Zugriff bekamen.5
Emilie und Gabrielle konnten vor Kriegsausbruch mit ihren Ehemännern und ihren Familien aus Österreich fliehen. Bei ihrer Flucht wurden sie von Freunden und Kolleg:innen in Großbritanien der „Society of the Protection of Science and Learning“, dem „Oxford Refugee Committee“ und dem „Kindertransport“ unterstützt.
Anna, die älteste Wertheimer-Schwester, hatte es bis September 1939 geschafft, die Flucht ihrer beiden Töchter zu organisieren. Ihre älteste Tochter Anne Marie war 1936 mit ihrem frisch angetrauten Ehemann aus Hamburg nach Argentinien geflohen, während Annas jüngere Tochter Margarete von den Quäkern nach Großbritannien gebracht wurde, um dort eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. Nach Ausbruch des Krieges im Jahr 1940 reisten Anna und ihr Sohn Hans in das damals neutrale Italien, um von dort aus mit dem Schiff nach Shanghai zu reisen. Bei ihrer Ankunft im Hafen erfuhren sie, dass sie sich aufgrund der gestiegenen Preise kein zweites Ticket leisten konnten. Anna ermöglichte ihrem Sohn die Flucht und versuchte vergeblich, weitere Mittel für ihre eigene Flucht aufzutreiben. Nachdem Italien in den Krieg eingetreten war, musste sie nach Hamburg zurückkehren. Dort wurde sie, von einer Ghettowohnung in die nächste verlegt, wobei sich die Lebensbedingungen zunehmend verschlechterten. Während dieser Zeit gab sie ihren Mitbewohner:innen Klavier- und Englischunterricht. Am 11. Juli 1942 wurde sie gewaltsam nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Emilie und Gabrielle verbrachten den Krieg beide im Exil in Großbritannien. Gabrielle, ihr Ehemann Moritz und ihr Sohn Rudi lebten während des gesamten Krieges in Oxford in der Nähe von Stefan und Emilie. Nach 1945 konnten Gabrielle und Moritz durch die Wiedergutmachungsbemühungen der Nachkriegszeit ihren Besitz in Bad Wimsbach, Oberösterreich, zurückerhalten.
Emilies Ehemann Stefan wurde als „enemy alien” im Lager Prees Heath in Shropshire interniert, während ihre beiden Söhne Kurt und Ernst auf der Isle of Man interniert wurden. Kurt und Ernst, damals Anfang 20, traten anschließend der britischen Armee bei und kämpften auf dem europäischen Festland. Kurt starb im Oktober 1944, nachdem er sich in Militärkrankenhäusern zunächst eine Blinddarmentzündung, dann eine Sepsis und schließlich Tuberkulose zugezogen hatte. Ernst wurde im Frühjahr 1945 bei einem Granatenangriff in der Nähe von Hannover schwer verletzt. Er verlor ein Auge und erlitt eine Vielzahl weiterer Verletzungen. Er wurde zur Genesung in eine Spezialklinik für Kopfverletzungen in Großbritannien zurückgebracht. Emilie war durch das Schicksal, das ihre Familie ereilt hatte, schwer gezeichnet und erlitt Ende 1945 eine Art Nervenzusammenbruch. In Briefen zwischen Vertretern der „Society for Protection and Learning“, Mitgliedern des „Oxford Refugee Council“ und Stefan Jellinek wird ausführlich über die mögliche Einweisung Emilies in eine psychiatrische Einrichtung diskutiert. Dem kam eine Reihe von Schlaganfällen zuvor, was in weiterer Folge zu Emilies Tod im Januar 1946 führte. Alle drei Wertheimer-Schwestern haben heute noch lebende Nachkommen.6
Der Nachbar und seine Familie
Katharina Mayrhofer fand im Alter von 18 Jahren, Mitte der 2000er Jahre, ein Möbelstück, konkret einen schwarzen Tisch, der aus dem Privathaus der Familie Wertheimer stammt. Wie sich später herausstellen sollte, befanden sich auch weitere Möbelstücke, die eindeutig dem Schloss Ranshofen zuzuordnen sind, im Besitz ihrer Familie. Mayrhofer erfuhr erstmals, dass ihr Urgroßvater Josef Kaltenhauser Sr. wie auch weitere Familienmitglieder der NSDAP angehörten. Von ihrer Mutter erfuhr sie, dass ihr Urgroßvater bereits vor 1938 als sogenannter „Illegaler“ schon während des Austrofaschismus ein überzeugter Nationalsozialist gewesen war. Nach dem „Anschluss“ Österreichs profitierte er durch seine vorherige Loyalität. Er trat an die Stelle des damaligen Direktors der Volksschule im Dorf Ranshofen, welcher zwangsversetzt wurde.7 Kaltenhauser konnte dadurch seine soziale Stellung verbessern und bezog mit seiner jungen Familie, seiner Frau Berta Sr. und der Tochter Berta Jr. am 1. Juni 1938 die Dienstwohnung im Schulgebäude.8 Dieses Gebäude befand sich in unmittelbarer Nähe zum Privathaus der Wertheimer-Schwestern und ihrer Familien im Schloss Ranshofen. Kaltenhauser pflegte Kontakt zum Ortsgruppenleiter von Braunau. Durch die örtliche Nähe der eigenen Wohnung, seiner NSDAP Mitgliedschaft9 sowie die damit einhergehenden diversen Funktionen („NSDAP Pressebeauftragter“ und „NSDAP Zellenleiter“)10 musste er über die Vorgänge vor Ort, die im Zuge der Zwangsenteignung der drei Schwestern am Schloss Ranshofen vor sich gingen informiert gewesen sein. Im Sommer 1938 war Kaltenhauser somit zur „richtigen Zeit, am richtigen Ort“. Mayrhofer vermutet, dass die Möbel entweder durch die Plünderung, wie im Gedächtnisprotokoll von Stefan und Emilie Jellinek beschrieben, in den eigenen Familienbesitz gelangt sind. Oder sich ihre Vorfahr:innen im Zuge der bevorstehenden „Arisierung“ bei einem erzwungenen Notverkauf, wie im zweiten Gedächtnisprotokoll von Ernst Jellinek beschrieben, bereichert haben.11
Hintergrund des Verkaufs des Wertheimer-Besitzes war die Absicht der Vereinigten Aluminiumwerke Berlin (VAW), auf einem Grundstück der drei Schwestern zwischen Braunau und dem benachbarten Neukirchen im Wald ein riesiges Aluminiumwerk zu errichten. Bei der Standortentscheidung spielten die Eigentumsverhältnisse eine wichtige Rolle. Hierbei konnten große Flächen „jüdischen“ Eigentums zu einem günstigen Preis erworben werden. So war es möglich sich mühsame Verhandlungen mit „arischen“ Grundbesitzern zu ersparen.12
Nachdem Ende des zweiten Weltkriegs verlor Josef Kaltenhauser Sr. seine berufliche Stellung und damit einhergehend seine Dienstwohnung im Schulgebäude von Ranshofen. Er zog mit seiner schwer an Tuberkulose erkrankten Frau und seinen inzwischen zwei Kindern in das nur wenige Kilometer entfernte Aching in das Gasthaus seiner Schwiegermutter Katharina Huber, welche ihre Tochter bis zu deren Tod im Gasthaus pflegte. Katharina Huber war ebenso seit 1938 Mitglied bei der NSDAP.13 Das Gasthaus war Treffpunkt für Gleichgesinnte während der NS-Zeit. An der dem Gasthaus angeschlossenen Landwirtschaft wurden Zwangsarbeiter zum Arbeiten eingesetzt. Auf dem Dachboden des Gasthauses fand Mayrhofer Jahrzehnte später den Tisch und persönliche Gegenstände ihres Urgroßvaters Josef Kaltenhauser Sr. .
Kaltenhauser wurde nur kurzzeitig vom Dienst als Lehrer enthoben und später trotz NS-Vergangenheit und Tuberkuloseerkrankung in einer anderen Volksschule wieder eingesetzt. Er starb Anfang der 1950er Jahre wenige Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau.
Das Rückstellungsverfahren
Nach 1945 versuchten die Rechtsvertreter der drei Wertheimer-Schwestern vergeblich, die Eigentumsrechte aus Ranshofen zurückzugewinnen. Der Rückstellungsprozess zog sich von 1946 bis 1950 hin. Die Geschädigten beanspruchten eine Rückstellung im Sinne des Dritten Rückstellungsgesetzes. Dies wollten die Nutznießer der „Arisierung“ tunlichst verhindern. Einerseits, um möglichst „günstig“ aus dem Entschädigungsverfahren auszusteigen, andererseits um das Verfahren künstlich in die Länge zu ziehen. Die Sparkasse Braunau bestritt, dass die drei Schwestern von ihnen unter Zwang gesetzt worden waren und behauptete, diese hätten mit ihren übertriebenen Preisforderungen einen früheren Verkaufsabschluss verhindert und seien im Grunde selbst schuld an den an ihnen angewandten nationalsozialistischen Gesetzen und Methoden. Die VAW, die als größter Profiteur hervorging, behauptete, erst im Abschluss des Kaufvertrags vom jüdischen Hälfteanteil erfahren zu haben und argumentierte selbstbewusst von der großen Bedeutung des Aluminiumwerks für die österreichische Volkswirtschaft. Der Verkehrswert des landwirtschaftlichen Gutes in Ranshofen wurde von der VAW heruntergespielt, indem behauptet wurde, der Investitionsaufwand hätte in keinem Verhältnis zum Verkehrswert des Gutes gestanden. Außerdem habe es sich um eine „rein wirtschaftliche Umgestaltung“ gehandelt und der Kaufpreis sei angemessen gewesen. Eine Beteiligung von Privatpersonen am Aluminiumwerk als Entschädigung wurde ausgeschlossen, da diese schließlich verstaatlicht sei. Die Stadtgemeinde Braunau gab sich über die Vorgeschichte der 1943 von den Aluminiumwerken eingetauschten Grundstücke völlig ahnungslos und stellte sich als „Opfer“ der NS-Herrschaft dar, das jetzt auch noch mit Entschädigungszahlungen büßen müsse. Im Jahr 1949 kam es schließlich zu einem Vergleich: Den ehemaligen Eigentümer:innen und Erb:innen musste eine finanzielle Entschädigung geleistet werden. Diese erbrachte Kompensation steht in keinerlei angemessenem Verhältnis zum historischen Unrecht, das den Geschädigten während der NS-Zeit zugefügt wurde. Belastend hinzu kommt die Uneinsichtigkeit der Profiteure der „Arisierung“.14
In dem Rückstellungsverfahren wurden persönliche Gegenstände der Familie Wertheimer sowie Einrichtungs- und andere Wertgegenstände nicht berücksichtigt.
Kunst als Handlung: Erinnerung im gemeinsamen Prozess
Im Jahr 2019 gelang es Katharina Mayrhofer mithilfe einer Genealogie-Website Kontakt zu Diana Jellinek aufzunehmen. Den Namen Wertheimer hatte Mayrhofer bei ihren Recherchen in der Oö. Landesbibliothek gefunden und so eine Verbindung zum Schloss Ranshofen herstellen können. Diana Jellinek ist die Enkelin von Stefan und Emilie Jellinek sowie die Tochter von Ernst Jellinek. Wenige Tage nach der ersten Kontaktaufnahme zu Diana Jellinek kam es in Wien zum ersten Treffen mit Diana Jellinek und ihrer Tochter Helen E. Davy.
Davy ist wie Mayrhofer Künstlerin und lebte und studierte zu dieser Zeit im Jahr 2020 in Wien.
Bei dem Treffen erzählte Mayrhofer den beiden, dass sie den Tisch als Jugendliche auf dem Dachboden ihres Großvaters entdeckt hatte. Aufgrund ihrer bildhauerischen Ausbildung war ihr der schwarze Tisch sofort aufgefallen. Dieser unterschied sich durch seine physische Beschaffenheit vollkommen von anderen Möbelstücken in ihrer Familie.
Noch auf dem Dachboden konfrontierte sie ihre Mutter Sabine mit den Worten:
Der Tisch gehört uns nicht, den müssen wir zurückgeben!
Mayrhofer erzählte, dass sie anfangs überfordert war, weil sie nicht wusste, wo und wie sie mit ihrer Suche nach den Nachfahr:innen beginnen sollte. So vergingen die Jahre. Der Tisch ging ihr aber nicht aus dem Kopf, bis schließlich bei einer Recherche in der Bibliothek der Name Egon Ranshofen-Wertheimer auftauchte und sie den ersten Anhaltspunkt hatte. Mit der Hilfe ihrer Mutter Sabine versuchte sie, die eigene Familiengeschichte zu rekonstruieren und die Umstände, unter denen der Tisch auf den Dachboden gekommen war, zu erforschen. Im Zuge dieser Recherchen fand Mayrhofer noch weitere Möbelstücke, die sich bis heute im Familienbesitz befinden und deren Herkunft sich auf das Schloss Ranshofen zurückführen lasse. Über diese Möbel konnten sie und ihre Mutter jedoch nicht selbst verfügen. Den Tisch würde sie aber gerne im restaurierten Zustand und auf eigene Kosten an die Nachfahr:innen der Familie Wertheimer zurückgeben, sofern diese damit einverstanden seien.
In den folgenden zwei Jahren nach dem ersten Treffen, während der Zeit der Pandemie, trafen sich Mayrhofer und Davy online und wenn möglich persönlich um Dokumente, Fotos, Familiennarrative und Briefe aus beiden Familien zu teilen und zu vergleichen. Die gemeinsame Recherche wurde durch Archivdokumente und Fachliteratur ergänzt.
Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schreibt in ihrem Beitrag „Das Gedächtnis der Dinge“, dass zwischen einem Besitzstück und seiner Besitzer:in eine tiefe, identitätsstiftende Verbindung besteht. Dinge, die uns über lange Zeit begleiten, sind Teil unserer Geschichte. Dieses dabei entstehende unsichtbare Band, von dem Assmann spricht, wird erst dann spürbar, wenn wir etwas verlieren, dass uns viel bedeutet hat. Ein solcher Verlust bedeutet mehr als einen materiellen Schaden, es kann dabei auch ein Teil der eigenen Identität verloren gehen. In diesem Sinne steht die Rückgabe des Tisches nicht allein für die Wiederherstellung von Besitzverhältnissen, sondern für eine symbolische Wiederverbindung einer unterbrochenen Familiengeschichte – einer Geschichte, die durch die NS-Zeit nicht nur physisch, sondern auch emotional zerstört wurde und deren Wirkung bis in die nachfolgenden Generationen reicht.15
Mit dem Bewusstsein für dieses unsichtbare Band fuhren die beiden Künstler:innen im Frühjahr 2022 mit dem Tisch an seinen ursprünglichen Ort zurück – das Schloss Ranshofen, von dem er einst entwendet worden war.
Vor Ort wählten sie in den ehemaligen Privaträumen der Schwestern, in den Räumlichkeiten der heutigen Musikschule Braunau, einen Raum aus um, inspiriert von der japanischen Reparaturmethode Kintsugi, ihren künstlerischen Restaurierungsprozess durchzuführen. Im Mittelpunkt des Projekts stand die Rückgabe des Tisches, begleitet vom gemeinsamen Prozess der Identitätsrekonstruktion beider Familiengeschichten. Die gemeinsame Restaurierung des Tisches diente als bewusste Maßnahme, um sich achtsam und gemeinsam der Vergangenheit zu nähern.
Die japanische Kintsugi-Methode geht auf die Teemeister des Muromachi-Zeitalters (1336-1573) zurück. Sie entdeckten in der „Zerbrochenheit“ von Teeschalen eine besondere Ästhetik und betonten die Bruchlinien durch Goldverzierungen. Im „Chado“, auch als Teezeremoniell bekannt, wurde die Kintsugi-Methode kultiviert, um beschädigte Teeschalen kunstvoll zu reparieren. Durch diese Reparaturtechnik erhalten die Gegenstände nicht nur ihre ursprüngliche Funktion zurück, sondern auch eine neue, tiefere Bedeutung. Die Schönheit des Unvollkommenen und Vergänglichen wird anerkannt und ein eigener Wert beigemessen. Anstatt die Beschädigung zu verbergen, werden Brüche gekittet und mit Goldpulver oder anderen Metallen und Materialien akzentuiert. Dadurch wird die Geschichte und Einzigartigkeit des Gegenstands sichtbar gemacht und ihm mit Wertschätzung begegnet.16
Nachdem der Tisch viele Jahrzehnte auf dem Dachboden überdauert hatte, wies er einige starke Beschädigungen auf, unter anderem auf der rechten Seite der Tischplatte. Vermutlich wurde diese einmal als eine Schneidunterlage zweckentfremdet. Der von einem Restaurator fachgerecht aufgearbeitete Tisch, wurde von den beiden Künstler:innen mit Goldpaste in mehreren Schichten, die jeweils nach der Trocknung aufpoliert und abschließend mit Lack versiegelt wurden, bearbeitet. Auch der Raum in dem gearbeitet wurde, wurde mit einbezogen. Dafür wurde ein Kratzer in einer sternförmigen Holzintarsie im Fußboden ebenso akzentuiert.

Bildnachweis: Helen Emily Davy
Während der Restaurierungsarbeiten trugen die beiden Röcke aus ehemaligen Tischdecken, die Mayrhofer einst gemeinsam mit ihrer Mutter und dem Tisch entdeckt hatte und die aufgrund ihres optischen Erscheinungsbildes ebenso im Verdacht stehen, auch mit dem Tisch aus dem Wertheimer Besitz entwendet worden zu sein. Im Gegensatz zum Tisch, unter dessen Tischplatte sich ein Transportetikett verbirgt, weisen diese Tischdecken kein Provenienzmerkmal auf.

Wie die Juristin und Kulturwissenschaftlerin Sophie Schönberger anmerkt, lassen sich Alltagsgegenstände nur schwer eindeutig zuordnen. In der Regel tragen Gebrauchsgegenstände keine Merkmale, anhand derer sich ihre Geschichte rekonstruieren lässt. Das unterscheidet sie deutlich von Kunstwerken aus öffentlichen Sammlungen, deren Herkunft durch Katalogisierung und Dokumentation leichter nachvollziehbar ist.17
Die Röcke stehen somit für das Ungewisse, für die Lücken in der Geschichte, die sich voraussichtlich nicht mehr schließen lassen. Die Künstlerinnen tauschten die Röcke und versorgten brüchige Stellen im Stoff, wobei sie sich wieder von der Kintsugi-Methode inspirieren ließen. Indem sie die beschädigten Stellen im Stoff mit Goldfäden bestickten, verwoben sich die beiden Familiengeschichten symbolisch miteinander. Gemeinsam versuchten sie durch die Reparatur an den Alltagsgegenständen, einen Umgang für das historische Unrecht zu finden, und holten sich die Familiengeschichte in symbolischer Weise an den eigenen Körper heran.
Bald darauf wurden der Tisch und die dabei von Mayrhofer entstandenen künstlerischen Fotografien, welche den Reparaturprozess dokumentierten als Beitrag einer Ausstellung über die Familie Wertheimer im Rahmen der Zeitgeschichte Tage, die vom Verein für Zeitgeschichte Braunau organisiert worden war, im Bezirksmuseum Herzogsburg ausgestellt.
Um den unterschiedlichen Familienzweigen und den Nachfahr:innen der Familie Wertheimer Teilhabe am Projekt zu ermöglichen, wurde gemeinsam mit Davy ein Motiv der künstlerischen Fotografien ausgewählt, in einer kleinen Auflage ausgearbeitet und an die Nachfahr:innen verschenkt.
80 Jahre nach der „Arisierung“ des Schloss Ranshofen wurde der Tisch restituiert.
Sophie Schönberger weist darauf hin, dass der grundlegende Charakter des Zurückgebens oft unterschätzt wird. Dies sei kein rein rechtlicher Akt, sondern eine zutiefst soziale Handlung. Restitution kann nur gelingen, wenn es sowohl jemanden gibt, der bereit ist, etwas zurückzugeben, als auch jemanden, der bereit ist, es anzunehmen. Zwischen Gebenden und Empfangenden entsteht dadurch eine neue, fragile Beziehung. Schönberger betont, dass es nie eine einfache Rückkehr zu einem früheren Zustand geben kann. Jede Restitution ist ein Aushandlungsprozess – ein symbolisches Neuordnen der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.18
Verantwortung als Beziehung
In den vergangenen Jahrzehnten konzentrierte sich die Diskussion um Raubgut aus der NS-Zeit vor allem auf prominente Objekte wie zum Beispiel berühmte Kunstwerke. Ein Kommentar den Mayrhofer bei ihren Recherchen zu ihrer Familiengeschichte erhielt, lautete: „Warum behandelst du den Tisch wie einen Schatz? Er ist doch wertlos. Schließlich handelt es sich nicht um einen Klimt!“. Doch genau in seinem alltäglichen Charakter liegt für Mayrhofer und Davy ein Teil der Kraft des Tisches. Der Tisch repräsentiert nicht nur die unzähligen Alltagsgegenstände, die während der NS-Zeit gestohlen wurden. Er ist gleichzeitig die symbolische Stellvertreter:in seiner einstigen Besitzer:innen und repräsentiert den Verlust des Zugehörigkeitsgefühls und der Identität, die durch die NS-Herrschaft zerstört wurden.
Die gemeinsame Auseinandersetzung mit der Vergangenheit anhand von Alltagsgegenständen schafft Bewusstsein, stärkt den Dialog und eröffnet neue Wege des Verständnisses. Durch ihre künstlerische Intervention begannen Mayrhofer und Davy traumatische Erinnerungen der Vergangenheit, das Erbe des Faschismus und die Art und Weise wie wir Kunst nutzen können, um das Verborgene zu beleuchten und mit Mitgefühl und Solidarität zu heilen. Das historische Unrecht kann nicht ungeschehen gemacht werden, aber es kann ein gemeinsamer Weg der Aufarbeitung im Umgang miteinander gelernt werden. Die Spuren und Wunden auf dem Tisch und den Tischdecken wurden bewusst als Ausdruck der Erinnerung gestaltet, der nicht versucht Trauma und Gewalt zu verbergen, sondern sie sichtbar zu machen und die Geschichte dadurch zu erzählen.
Erinnern als gemeinsame Zukunft
Ende des Jahres 2022 kontaktierten Davy und Mayrhofer die Wiener Holocaust Library in London, um das Projekt im Rahmen einer Ausstellung zu präsentieren.
Die daraus entstandene Ausstellung „Looted: Two Families, Nazi Theft and the Search for Restitution“ wurde von den beiden Künstler:innen kuratiert und lief von 16. Juli 2025 bis 10. Oktober 2025. Sie wurde finanziell unterstützt vom österreichischen Bundesministerium, dem Arts Council England und dem Österreichischen Kulturforum London. Die Ausstellung führte durch das Leben der Familien Wertheimer und Kaltenhauser von den frühen 1930er Jahren über den „Anschluss“ und den Zweiten Weltkrieg bis zum Holocaust und der Präsentation des Projekts „Der Tisch, der uns nicht gehört“.

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan

Bildnachweis: Claire Nathan
Das Projekt „Der Tisch, der uns nicht gehört“ möchte dazu anregen, über mit historischem Unrecht belastete und verdächtige Gegenstände im Privatbesitz zu reflektieren und deren Besitz kritisch zu hinterfragen. Um gegebenenfalls eine freiwillige Rückgabe aus privatem Antrieb heraus zu forcieren. Ein großes Potenzial liegt laut Mayrhofer und Davy darin, Familiennarrative kritisch zu hinterfragen und private Dokumente aus den Familien der Opfer, als auch der Täter:innen mit Archivquellen abzugleichen.
Restitution sehen die beiden nicht als einen Akt für die Vergangenheit, sondern für eine gemeinsame Zukunft. Die Kunst kann dabei unterstützen in einen Dialog zu treten, um über die Abgründe der Geschichte Brücken für eine gemeinsame Erinnerungskultur zu bauen.
- Köhlmeier, M., 2018. Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle. München: dtv., S.8. ↩︎
- Vgl. Pallestrang, K., 2023. In: Gesammelt um jeden Preis!, Österreichisches Museum für Volkskunde, Band 108, Wien, S. 96. ↩︎
- Ebd. ↩︎
- Vgl. Jellinek, E. & Jellinek S., 1940 Gedächtnisprotokoll über das Gut Ranshofen bei Braunau am Inn. Erstellt im englischen Exil: Privat Diana Jellinek, unveröffentlicht, S.4. ↩︎
- Vgl. Kugler A., 2002, Vom Arisierten Gutsbesitz zum Aluminiumwerk, Wien, S.76. ↩︎
- Vgl. Society for the Protection of Science and Learning Archive, Weston Library, Oxford, MS. S.P.S.L. 406/1-5. ↩︎
- Kirchroth, M., 1939 und 1941. Lehrer-Jahrbuch für Oberdonau. Linz: Verlagsanstalt Josef Feichtingers Erben, Oö. Landesbibliothek. ↩︎
- Braunau am Inn, Melderegisterauszug 1938-45, betreffend Kaltenhauser Josef. ↩︎
- NSDAP-Zentralkartei I BArch R 9361-VIII Kartei/ 14491452 (1938), Bundesarchiv Deutschland. ↩︎
- Kirchroth, M., 1939 und 1941. Lehrer-Jahrbuch für Oberdonau. Linz: Verlagsanstalt Josef Feichtingers Erben, Oö. Landesbibliothek. ↩︎
- Vgl. Jellinek, E., 1947. Gedächtnisprotokoll. Oxford: Privat Familie Jellinek, unveröffentlicht. S. 1-2 ↩︎
- Vgl. Schwanninger, F., 2025 Booklet Wiener Holocaust Library, Exhibition „Looted: Two Families, Nazi Theft and the Search for Restitution“, Ranshofen 1938-Aryanisation in the Province., eigene Übersetzung. ↩︎
- NSDAP-Gaukarte I BArch R 9361-IX Kartei / 17120035 (1938), Bundesarchiv Deutschland. ↩︎
- Vgl. Kugler A., 2002, Vom Arisierten Gutsbesitz zum Aluminiumwerk, Wien, S.95-97. ↩︎
- Assmann, A., 2009. Das Gedächtnis der Dinge. In: A. Reininghaus, Hrsg. Recollecting., Wien Passagen, S.149. ↩︎
- Vgl. Kiyokawa, H., 2021, The spirituality of Kintsugi. Japan Tankosha, S.8.. ↩︎
- Vgl. Schönberger, S., 2019, Was heilt Kunst? München Wallstein Verlag, S. 169. ↩︎
- Vgl. Schönberger, S., 2019, Was heilt Kunst? München Wallstein Verlag, S. 95-96. ↩︎
