Alma Rosé Preisträgerin 2025, Kathrin Hansen

Alma Rosé Preisträgerin 2025, Kathrin Hansen:
“Home was not Home anymore”

Die Novemberpogrome stellten eine bis dato beispiellose Eskalation von Gewalt im nationalsozialistischen Deutschland dar. Als am 9. November 1938 die Nacht über die jüdische Bevölkerung Deutschlands hereinbrach, befürchteten zwar viele, dass auf die vorangegange Ermordung Ernst vom Raths massive „Racheakte“ folgen könnten, doch niemand konnte das Ausmaß von Gewalt erahnen, das erreicht werden sollte. Dabei spielte insbesondere der Vandalismus des Privatraums eine tragende Rolle, ein Aspekt, der in vielen bekannten Darstellungen des Pogroms eher im Hintergrund bleibt. Innerhalb weniger Stunden fanden sich viele Jüdinnen und Juden vor den Trümmern ihres Zuhauses wieder: ihre Wohnungen zerstört, ihr Besitz geplündert, ihre Privatsphäre vernichtet. Viele standen nicht nur vor den Scherben der eigenen Existenz, sie wurden auch Opfer massiver physischer Gewalt, Demütigungen oder gar in ein Konzentrationslager verschleppt.

Besonders muss betont werden, dass die Wohnungszerstörungen nicht isoliert vom Rest der Pogromgewalt betrachtet werden können. Ein großer Teil der Pogromüberlebenden berichtete davon, dass sie im Anschluss an die Wohnungszerstörung massive physische Gewalt durch die Täter erfuhren. Die Gewalt richtete sich gegen beide: Individuen und ihre Räume.

Verwüstetes Büro in München.
©Heinrich Hoffmann/Bayerische Staatsbibliothek.

Doch wie war es zu diesem Ausbruch von Gewalt gekommen? Die Novemberpogrome haben eine Vorgeschichte. Das gesamte Jahr 1938 war bereits von einer stetigen Eskalation antisemitischer Gewalt geprägt gewesen, die schließlich im Pogrom kulminierte. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 markierte hier eine entscheidende Zäsur. Unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen, begleitet vom Jubel der Bevölkerung, kam es unter anderem in Wien zu massiven Ausschreitungen: Nationalsozialisten drangen auch hier in Wohnungen von Jüdinnen und Juden ein, plünderten, erniedrigten ihre Opfer öffentlich und verprügelten sie.1 Die Gewalt im Privatraum ähnelte vielfach den Wohnungszerstörungen der Novemberpogrome.

Auch in Deutschland verfolgten die Nationalsozialist*innen Jüdinnen und Juden unter Anwendung massiver Gewalt. Im Rahmen der sogenannten Juni-Aktion, die Teil der Aktion Arbeitsscheu Reich war, wurden Tausende jüdische Männer verhaftet, vorgeblich, weil sie arbeitslos oder vorbestraft seien. Tatsächlich genügte oftmals bereits ein geringfügiger Verstoß, etwa zu schnelles Fahren, um inhaftiert und in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau verschleppt zu werden.2

Die Annexion des Sudetenlandes im Herbst 1938 war ebenso von vereinzelten Gewaltausbrüchen begleitet, die jedoch in ihrer Intensität und Reichweite nicht daran heranreichten, was im November desselben Jahres folgen sollte.3 Die Novemberpogrome waren somit kein spontaner Gewaltausbruch, sondern der Höhepunkt eines Prozesses der Enthemmung und staatlicher Legitimierung antisemitischer Gewalt. Sollten Jüdinnen und Juden zuvor durch rassistische Gesetze, antisemitische Verordnungen und wirtschaftliche Ausgrenzung zunehmend zur Emigration bewogen werden, machten die Novemberpogrome 1938 unmissverständlich deutlich, dass sie keine Zukunft in Deutschland mehr zu erwarten hatten. Inwiefern diese Aussichtslosigkeit jedoch in der Zeit selbst zu erkennen war, ist fraglich.

Nur wenige Wochen vor dem Pogrom, am 28. und 29. Oktober 1938, waren in der sogenannten Polen-Aktion Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit verhaftet worden, mit dem Ziel, sie nach Polen abzuschieben. Polen hatte jedoch vielen im Ausland lebenden Staatsbürgern bereits Monate zuvor die Staatsbürgerschaft entzogen, um eine solche Massenabschiebung zu verhindern. Die Betroffenen wurden an der Grenze abgewiesen und mussten im Grenzort Zbąszyń unter katastrophalen Bedingungen ausharren. Unter ihnen war auch Beile, die Schwester des 17-jährigen Herschel Grynszpan, die ihm von ihrer verheerenden Situation in einer Postkarte berichtete.4 Grynszpan lebte zu diesem Zeitpunkt unter prekären Bedingungen ist Paris, nachdem er 1935 nach Frankreich geflohen war.

Grynszpan nahm die ausweglose Lage seiner Familie zum Anlass, am 7. November 1938, die Deutsche Botschaft in Paris aufzusuchen und auf den Legationssekretär Ernst vom Rath zu schießen. Mit dieser Tat wollte er die Weltöffentlichkeit auf die Lage der deportierten Jüdinnen und Juden an der polnischen Grenze aufmerksam machen. Die Nachricht vom Attentat verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die nationalsozialistische Presse instrumentalisierte den Angriff und verband ihn mit einem ähnlichen Akt von Selbstjustiz, der 1936 von David Frankfurter in der Schweiz verübt worden war zum Tod des Nationalsozialisten Wilhelm Gustloff geführt hatte. Rundfunk und Printmedien nutzten diese Ereignisse, um in den Folgetagen die antisemitische Hetze zu verschärfen und das Gerücht einer angeblichen geheimen jüdischen Weltverschwörung zu verbreiten.

Die Folgen waren unmittelbar spürbar: Bereits am Abend des 7. November brachen im Raum Kassel und Bebra Pogrome aus. Diese Welle lokaler Gewalt setzte sich teilweise bis zum 9. November und weit darüber hinaus fort. Für die jüdische Bevölkerung in ganz Deutschland bedeutete das Attentat und die darauffolgende Hetze einen Schock: Viele zogen sich in den Tagen nach dem Anschlag zurück, in Angst vor Vergeltung für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatten.

Die Stimmung war angstvoll, beklommen und angespannt, wie die Schriftstellerin und spätere Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich am Tag des 9. November 1938 in ihrem Tagebuch beschrieb:

Im Omnibus, auf der Straße, in Geschäften und Kaffeehäusern wird der Fall Grünspan [sic] laut und leise diskutiert. Nirgends merke ich antisemitische Entrüstung, wohl aber eine drückende Beklommenheit, wie vor dem Ausbruch eines Gewitters. Am Kurfürstendamm, auf der Tauentzienstraße und der Leipziger Straße sind die Geschäfte, die sich laut amtlicher Anordnung durch weiße Namensaufschrift als jüdische kennzeichnen mussten, auffallend leer.5

Der Abend des 9. November 1938 fiel mit dem 15. Jahrestag des gescheiterten Hitler-Putsches von 1923 zusammen. Dieser Tag wurde in Deutschland in unzähligen Kneipen mit Mengen an Alkohol gefeiert, aber auch im Alten Rathaus in München, wo eine offizielle Gedenkveranstaltung stattfand. Unter den Anwesenden waren Joseph Goebbels und Adolf Hitler. Beide waren zu diesem Zeitpunkt bereits über antisemitische Ausschreitungen im Raum Kassel und Bebra informiert. Goebbels hielt an diesem Abend eine Rede, deren Wortlaut nicht überliefert ist, die aber offenbar als Signal zur Eskalation der Gewalt im gesamten Reich verstanden wurde. In seinem Tagebuch beschreibt er, wie die Anwesenden unmittelbar danach aus dem Saal eilten und eine Telefonkette in Gang setzten.6 Diese informellen Kommunikationswege fungierten als Startschuss für die Welle der Gewalt, die in den folgenden Stunden über Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland hereinbrach.

Vor allem Angehörige der SA, aber auch zahlreiche „ganz normale Männer“7, plünderten und zerstörten jüdische Geschäfte. Sie schändeten Synagogen, zündeten sie an, ließen sie auf die Grundmauern niederbrennen und versuchten so die häufig über Jahrhunderte bestehende jüdische Präsenz aus dem Stadtbild zu tilgen. Doch die Verwüstungen beschränkten sich nicht auf den öffentlichen Raum. Besonders grausam zeigte sich die Gewalt in den privaten Wohnungen der Betroffenen. SA-Angehörige drangen in Häuser ein, randalierten, zerschlugen Möbel, zerstörten persönliche Gegenstände und schlugen die Bewohner*innen. In diesen Übergriffen offenbarte sich ein Muster, das sich in ganz Deutschland wiederholte und die konzertierte Struktur des Angriffs deutlich macht, die bisher häufig in der Forschung übersehen worden ist.

„Da es nur wenige zeitgenössische Aufnahmen der Wohnungszerstörungen gibt, steht dieses Bild stellvertretend für die komplette Zerstörung – Brandstiftung nach dem Vandalismus an einer Synagoge“
Quelle: Public Domain, https://www.theguardian.com/world/2022/nov/09/unseen-kristallnacht-photos-published-84-years-after-nazi-pogrom(Aufruf 03.11.25)

Welcher Anteil dieser Gewaltwelle auf konkrete Befehle zurückging, bleibt aber unklar. Deutlich ist jedoch: Die Wohnungszerstörungen waren keine Begleiterscheinungen des Pogroms, sondern ein zentrales Element der Gewaltpraxis. Sie nahmen den Betroffenen nicht nur ihre Privatsphäre, sondern auch ihre vertrauten Objekte und ihre Erinnerungsträger. Kurzum: alles, was ihr Zuhause ausmachte. Die Untersuchung genau dieses Moments lässt uns die Vielschichtigkeit von Pogromgewalt besser verstehen ebenso wie das Zusammenspiel von Gewalt und Raum auf einer Mikroebene fernab von Krieg und Straßengewalt.


Quellen

Im Zentrum dieser Untersuchung standen in erster Linie Berichte von Augenzeug*innen und Überlebenden der Novemberpogrome. Der Quellenkorpus umfasst dabei nicht nur erinnerungsbiografische Interviews der USC Shoah Foundation, sondern stützte sich vor allem auf zwei einzigartige historische Sammlungen, die einen unmittelbaren Zugang zu den Ereignissen von 1938 eröffnen.

Die erste Sammlung geht auf Alfred Wiener zurück, der 1885 in Potsdam geboren wurde und als Syndikus des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens tätig war. Nach seiner Emigration 1933 leitete Wiener das Jewish Central Information Office (JCIO) in Amsterdam, aus dem 1946 die Wiener Library hervorging, die heute in London und Tel Aviv ansässig ist. Kurz nach den Pogromen begann er, Berichte über die Ereignisse zu sammeln, viele davon wurden nur wenige Tage oder Wochen nach den Novemberpogromen verfasst. Einige Berichte stammen von Jüdinnen und Juden, die bereits emigriert waren und ihre Erlebnisse aus dem Exil einsandten.

Die Berichte aus dieser Sammlung zeichnen sich durch ihre Unmittelbarkeit aus: Das Erlebte war noch frisch, die Wohnungen vieler Betroffener lagen noch buchstäblich in Trümmern. Zwischen den Zeilen sprechen Angst und die Sorge um Angehörige ebenso wie die Furcht vor möglichen Konsequenzen des Erlebten. Von der ursprünglichen Sammlung sind heute nur 346 Berichte erhalten. Nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande musste das JCIO einen Großteil der Dokumente vernichten. Auch viele Hintergrundinformationen zur Sammlung gingen verloren. Zwar gelang Alfred Wiener 1939 die Flucht, doch die Überführung der Materialien blieb unvollständig.8

Eine zweite wichtige Quellengrundlage bilden die Berichte, die im Rahmen des Preisausschreibens Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 gesammelt wurden. Das Projekt wurde 1940 unter anderem von dem amerikanischen Soziologen Edward Hartshorne initiiert. Ziel war es, biografische Darstellungen zu gewinnen, die das Leben emigrierter Deutscher, oft Jüdinnen und Juden, in seiner ganzen Spannweite dokumentieren sollten. Viele dieser Berichte konzentrieren sich nicht unmittelbar auf die Novemberpogrome, da zahlreiche Autor*innen Deutschland bereits zuvor verlassen hatten. Dennoch sind auch hier die Erinnerungen lebendig und von emotionaler Dringlichkeit geprägt. Besonders deutlich wird dies im Bericht eines Kaufmanns unter dem Pseudonym Hugo Moses, der schildert, wie er die Nacht des Pogroms erlebte, als seine Wohnung überfallen wurde.

Die Wohnungszerstörungen

Symbolbild: Im Moment der Zerstörung, unter den Blicken von Zuschauer*innen
Quelle: Public Domain, https://www.theguardian.com/world/2022/nov/09/unseen-kristallnacht-photos-published-84-years-after-nazi-pogrom (Aufruf 03.11.25)

Über Hugo Moses selbst ist wenig bekannt. Er reichte im Februar 1940 seinen Beitrag für das Preisausschreiben
Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933 ein, wählte aber bereits im Schriftverkehr mit Hartshorne dieses Pseudonym. Ebenso wollte er aus Angst vor Konsequenzen keine Angaben zu seinem Wohnort nach der Emigration veröffentlichen. Aus Moses’ Bericht geht hervor, dass er aus einer Stadt mit 11 000 Einwohner*innen im Rheinland stammte, Soldat im Ersten Weltkrieg war und daran anschließend eine Lehre zum Bankkaufmann abschloss. Besonders betont er seinen diversen Freundeskreis, der Juden und Nicht-Juden gleichermaßen einschloss. Zum Zeitpunkt des Berichtes war er 45 Jahre alt, verheiratet und hatte eine 16-jährige Tochter sowie einen 11-jährigen Sohn. In seinem Bericht überwiegt die Ambivalenz zwischen Kameradschaft und Zugehörigkeit, aber auch antisemitischer Ausgrenzung. Letztere gipfelte am 9. November in der Zerstörung seiner Wohnung:

Als eine Horde vertierter Bestien in Uniform in völliger Trunkenheit Hab und Gut, die Vergangenheit und die Zukunft von tausenden Menschen in einer Stunde zugrunde richtete, als blutgierige, verwilderte, brutale Kreaturen, gedeckt und geschützt durch die braunen und schwarzen Uniformen der herrschenden Partei arme gequälte Menschen zu Tausenden hinschlachteten und tausende von armen Menschen sadistisch misshandelten. Wenn ich die Begebenheiten dieser Nacht noch einmal schildere, obwohl Einzelheiten hierüber bekannt sein mögen, wenn es hunderten von armen Glaubensgenossen noch schlimmer ergangen sein mag, so tue ich es dennoch. Tue es, weil der Eindruck sich bisher noch nicht abgeschwächt hat, obwohl inzwischen anderthalb Jahre verflossen sind, weil es das Schlimmste war, das Menschenhirne ausdenken und in die Tat umsetzen konnten…9

Im Bericht von Hugo Moses tritt das Trauma der Novemberpogrome mit erschütternder Klarheit hervor. Seine Fassungslosigkeit, darüber, welche Gewalt ihm widerfahren war, ist auch zum Zeitpunkt des Schreibens noch deutlich. An anderer Stelle äußert Moses ebenso die Irritation darüber, dass ein solches Pogrom ausgerechnet in Deutschland stattgefunden hat. Viele deutsche Jüdinnen und Juden hatten Pogrome bislang als Phänomen der Vergangenheit, etwa des zaristischen Russlands, wahrgenommen. Derartige Zustände in ihrer Heimat schienen für viele undenkbar. Am 9. November wurden sie jedoch Zeugen und Opfer eines staatlich orchestrierten, flächendeckenden Gewaltakts.

Nachts punkt drei Uhr läutete in meiner Wohnung zweimal anhaltend die Klingel. Ich ging zum Fenster und sah, dass die Straßenbeleuchtung gelöscht war. Trotzdem konnte ich ein Transportauto erkennen, dem etwa zwanzig uniformierte Männer entstiegen. Gekannt habe ich nur einen Mann, der als Führer diente, die anderen kamen aus anderen Ortschaften und Städten und waren nach einem Marschplan auf die Bezirke verteilt. Ich rief meiner Frau zu: ‚Nicht erschrecken, es sind Parteileute, bitte ganz ruhig sein. Dann ging ich im Schlafanzug zur Haustür und öffnete. Eine Wolke von Alkohol schlug mir entgegen, und die Horde drängte sich ins Haus. Ein Führer ging an mir vorbei und riss mit einem Ruck das Telefon herunter. Ein Führer der schwarzen SS grün im Gesicht vor Trunkenheit, hielt mir seinen Revolver, den er vor meinen Augen entsicherte, an die Stirn und lallte: ‚Weißt du Schwein, weshalb wir kommen?‘ Ich antwortete: ‚Nein‘ und er fuhr fort: ‚Wegen der Schweinerei in Paris, an der du auch schuldig bist. Falls du auch nur den Versuch machst, dich zu rühren, schieße ich dich ab, wie eine Sau.‘ Ich schwieg und stand, die Hände auf dem Rücken, in der eiskalten Luft in der offenen Tür. Ein Mann der SA, der wohl ein bisschen menschliches Gefühl hatte, flüsterte mir zu: ‚Stillstehen, nicht rühren.‘ Während der ganzen Zeit und noch weitere zwanzig Minuten fuchtelte der betrunkene SS-Führer bedrohlich mit seinem Revolver an meiner Stirn herum. Eine Bewegung von mir oder eine ungeschickte Bewegung seinerseits und mein Leben war vorüber. Und wenn ich hundert Jahre alt werde, nie würde ich dieses vertierte Gesicht vergessen und diese schrecklichen Minuten.10

Bis zu diesem Zeitpunkt waren jüdische Deutsche zwar bereits aus vielen gesellschaftlichen Räumen verdrängt worden, wodurch die Sicherheit und der Schutz ihrer privaten Wohnung an Bedeutung gewannen. Waren Wohnungen zum Zeitpunkt der Pogrome einer der wenig gebliebenen Rückzugsorte, geschah hier das Unvorstellbare: der letzte verbliebene und sicher geglaubte Raum wurde angegriffen. In der Erfahrung Hugo Moses‘ paart sich das unerwartete Eindringen in den Privatraum mit massivem Antisemitismus. Er wird auf seine Zugehörigkeit reduziert, verhöhnt, mit beleidigenden Attributen überzogen, gleichzeitig wird die Gewalt als „Rache“ für das Attentat Herschel Grynszpans gerechtfertigt.

Besonders eindringlich sind die klaren Erinnerungen, die Moses zur Beschreibung der Nacht nutzt: der Geruch, die Kälte, die Körperlichkeit des Moments. Diese Sinneseindrücke in der Gewaltsituation verdeutlichen, wie tief sich das Geschehen in sein Gedächtnis eingebrannt hat. In dem Moment, in dem die Täter seine Wohnung betraten, verlor Moses jegliche Kontrolle über seinen Raum. Durch die Waffe wird er immobilisiert und kann sich nicht gegen die eingedrungenen SA-Angehörigen wehren. Sein Rückzugsort und privater Raum, dessen Kontrolle er als selbstverständliches Recht wahrgenommen hatte, wurde nun überrannt, enteignet, bedroht. Dabei ist zu spüren, dass der Angriff tatsächlich in erster Linie der Wohnung galt. Zwar bedrohte ihn einer der SA-Männer mit einer Waffe, doch stürzten sich alle übrigen Täter auf Möbel, Wände, persönliche Gegenstände. Diese Fokussierung auf den Raum ist symptomatisch für die Novemberpogrome insgesamt. Oftmals wurde Opfern Gewalt erst zugefügt, nachdem sie mitangesehen hatten, wie ihre Wohnung zerstört wurde. In vielen Fällen wurden Wohnungen auch in Abwesenheit der Bewohner*innen verwüstet. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Bewohner*innen vorher aus der Wohnung gezerrt wurden, fliehen konnten oder wenige Wochen vorher nach Zbąszyń deportiert worden waren.. Die Gewalt traf sie alle über den Raum. Gerade weil der Raum immobil war, wurde er zum Ziel. Die Täter wussten, wo sie Jüdinnen und Juden verletzen konnten, selbst in deren Abwesenheit. Das gewaltsame Eindringen in die Wohnung bedeutete den Verlust von Sicherheit, Kontrolle und Privatheit.

Diese Grenzüberschreitung durch das gewaltsame Betreten des bis dahin geschützten Raums, ist eine tiefgreifende psychische Zäsur. Besonders überwiegt hier das Gefühl der Ohnmacht und des Machtverlustes, was sich in zahlreichen zeitgenössischen Berichten zeigt. Hugo Moses steht stellvertretend für unzählige Betroffene, deren Zuhause und damit auch ihr alltägliches Leben im November 1938 zerstört wurden.

In den Wohnungszerstörungen blieb es allerdings nicht bei Grenzüberschreitungen.

In der Zwischenzeit waren etwa zehn Uniformierte in meine Wohnung eingedrungen. Ich hörte meine Frau rufen: ‚Was wollen Sie bei meinen Kindern? Der Weg zu den Kindern führt nur über meine Leiche!‘ Dann hörte ich nur noch das Krachen von umstürzenden Möbeln, splitterndes Glas und das Trampeln von schweren Stiefeln. Noch nach Wochen wachte ich aus ruhelosem Schlummer auf, und stets wieder hörte ich dieses Krachen, Hämmern und Schlagen. Nie werden wir diese Nacht vergessen können. Nach etwa einer halben Stunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, verließen die vertierten betrunkenen Gestalten laut grölend die Wohnung. Der Anführer pfiff auf einer Pfeife und schoss, als seine Untergebenen an ihm vorbeitorkelten, seinen Revolver hart an meinem Kopf vorbei, zweimal in die Decke. Ich glaubte, mir sei das Trommelfell geplatzt, trotzdem stand ich wie eine Mauer. (Die Einschläge der zwei Kugeln zeigte ich später einem Polizeibeamten.) Der letzte SA-Mann, der das Haus verließ, schlug mir mit einem Spazierstock, mit dem er meine Bilder demoliert hatte, derartig über den Kopf, dass die Schwellung noch vierzehn Tage später fühlbar war. Beim Herausgehen rief er mir zu: ‘So, du Judensau, und nun viel Vergnügen‘. Meine arme Frau und die vor Angst bebenden Kinder saßen weinend auf dem Boden. Stühle und Betten besaßen wir nicht mehr. Zum Glück stand der brennende Ofen unversehrt – unser Haus wäre sonst, wie viele andere, in Flammen aufgegangen.11

Hugo Moses musste im November 1938 nicht nur mitansehen, wie seine Wohnung zerstört und sein gesamtes Mobiliar zerschlagen wurde, er erlebte auch unmittelbare körperliche Gewalt. Dass ihn die Kugel eines SA-Angehörigen nicht traf, war wohl reiner Zufall: Der Mordversuch scheiterte vermutlich an der massiven Alkoholisierung des Täters. Auch musste Moses miterleben, wie die Täter seine Frau und Kinder bedrohen, während er seine Familie nicht beschützen konnte ohne selbst Gewalt zu erfahren.

Hier zeigt sich die zerstörerische Wut der Täter in all ihrer Intensität. Moses beschreibt, wie seine Familie nach dem Pogrom gezwungen war, auf dem Boden zu sitzen, da sie keine Stühle oder Betten mehr besaß. Dies verdeutlicht die Gründlichkeit der Zerstörung: Nichts blieb, worauf man hätte Platz nehmen können. Die Gewalt entzog den Betroffenen buchstäblich den Boden, auf dem sie standen. Ähnliche Beschreibungen finden sich in den meisten Berichten der Wohnungszerstörungen. So stechen insbesondere zerschlagene Stühle, Schränke und zerschnittene Betten hervor, aus denen die Federfüllung quillt. Im Falle der Stühle und Betten sind die körperlichen Konsequenzen besonders schwer. Es gibt keinen Ort mehr, wo sich Bewohner*innen ausruhen konnten. Im ersten Anblick der zerstören Wohnung überwiegt das Bild der absoluten Verwüstung: Es ist nichts mehr da, die eigenen Dinge existieren nicht mehr.

Symbolbild: Machtverlust über die eigenen Objekte
Quelle: Public Domain, https://www.theguardian.com/world/2022/nov/09/unseen-kristallnacht-photos-published-84-years-after-nazi-pogrom (Aufruf 03.11.25)

Die Verwüstung geschah jedoch nicht nur in blinder Raserei. Neben dem Zerschlagen von großen Objekten wie Möbeln, richtete sich die Gewalt auch auf kleinere, leicht übersehbare Gegenstände: verbogene Kaffeelöffel, zerschnittene Kleidung im Schrank, zertretener Schmuck. Diese Art der Zerstörung benötigte Zeit und Koordination, im Gegensatz zum bloßen Zerschlagen von Mobiliar. Sie geschah im Wissen der Täter, sich Zeit lassen zu können, da sie niemand aufhalten würde. Diese Kombination aus grober und detaillierter Zerstörung ist ein charakteristisches Merkmal der Novemberpogrome. Während Überlebende oft das Bild der Trümmer hervorheben, verweisen sie ebenso auf die gezielte, fast sadistische Beschädigung sämtlicher Alltagsgegenstände.

Besonders die Zerstörung von Kleidung hatte weitreichende symbolische Bedeutung. Wenn alle Kleidungsstücke zerschnitten waren, blieb den Betroffenen nur das, was sie im Moment des Überfalls am Körper trugen: häufig ein Nachthemd.

An dieser Stelle muss auf das Zusammenspiel der Wohnungszerstörung und direkter körperlicher Gewalt eingegangen werden. Oft fand die Gewalt jedoch nicht der Wohnung selbst statt. In Berichten überwiegt, dass Betroffene zuerst auf die Straße gezerrt wurden, bevor ihnen Gewalt angetan wurde. Im öffentlichen Raum, vor den Augen Schaulustiger, quälten und erniedrigten SA-Angehörige ihre Opfer. Hier ist auch das Nachthemd relevant. Betroffene von Wohnungszerstörungen waren machtlos darüber, wer ihre Wohnungen betrat, was mit den Wohnungen passierte, aber auch, in welchem Raum sie sich aufhalten konnten und wie sie sich darin aufhielten. Wer im Nachthemd auf die Straße gezerrt wurde, war zugleich entblößt, bloßgestellt und schutzlos. Szenen, in denen Menschen vor Schaulustigen geschlagen und gedemütigt wurden, verstärkten ihr Gefühl totaler Ohnmacht. Ihr Leid wurde so vor einem großen Publikum zur Schau gestellt. Mordversuche, wie im Fall von Hugo Moses waren zwar selten, dennoch starben viele Opfer in den Tagen und Wochen nach dem Pogrom an den Folgen der Misshandlungen.

Die Wohnungszerstörungen müssen als integraler Bestandteil der Pogrome verstanden werden. In zerstörten Räumen, in denen kein Objekt mehr benutzbar war, wurde aus dem früheren Zuhause ein Ort des Überlebenskampfes. Zusammen mit den verwüsteten Geschäften und niedergebrannten Synagogen bedeutete dies eine umfassende Raumvernichtung: Für Jüdinnen und Juden in Deutschland gab es keinen Platz mehr für Gemeinschaft, keinen Raum für Arbeit, keinen privaten Wohnraum. Die jüdische Bevölkerung wurde ihrer Räume, ihres Eigentums und damit ihrer sozialen Verankerung beraubt. Das Ergebnis waren Isolation, Vertreibung und Entwurzelung. Die Novemberpogrome markieren damit nicht nur eine Welle physischer Gewalt, sondern einen massiven Akt der Raumvernichtung.



Quellen

Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Frankfurt am Main, 1986.

Joseph Goebbels, Tagebuch von Joseph Goebbels, Eintrag vom 10. 11. 1938, Dok. 124, in: Götz Aly u. Susanne Heim (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Edition Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Band 2, München 2009, S. 363–366.

Hugo Moses, Manuskript 39 (159), in: Uta Gerhardt u. Thomas Karlauf (Hg.), Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, List-Taschenbuch, Band 61012, Berlin 2011, S. 37-59.


Literatur

Ben Barkow, Vorwort, in: ders. u.a. (Hg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main 2008.

Wolfgang Brenner, Das deutsche Datum. Der neunte November, Freiburg im Breisgau 2019.

Raphael Gross, November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, Beck’sche Reihe, Band 2782, München 2013.

Reinhard Rürup, Der 9. November 1938 und das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte, in: Hans-Jochen Vogel u. Rita Süssmuth (Hg.), Gedenken und Bewahren in unserer Demokratie. Gedenken und Bewahren in unserer Demokratie, Schriftenreihe des Vereins “Gegen Vergessen – Für Demokratie”, Band 3, München 2001, S. 88-99.

Unbekannt, Die ersten Tage der Un-Menschheit, in: Hans Witek u.a. (Hg.), Und keiner war dabei. Dokumente d. alltägl. Antisemitismus in Wien 1938, Wien 1988.


  1. Vgl. Unbekannt, Die ersten Tage der Un-Menschheit, in: Hans Witek u.a. (Hg.), Und keiner war dabei. Dokumente d. alltägl. Antisemitismus in Wien 1938, Wien 1988, S. 19 f. ↩︎
  2. Raphael Gross, November 1938. Die Katastrophe vor der Katastrophe, Beck’sche Reihe, Band 2782, München 2013, S.37. ↩︎
  3. Vgl. Wolfgang Brenner, Das deutsche Datum. Der neunte November, Freiburg im Breisgau 2019, S. 174. ↩︎
  4. Gross, S. 17. ↩︎
  5. Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945, Frankfurt am Main, 1986, S. 26. ↩︎
  6. Vgl. Joseph Goebbels, Tagebuch von Joseph Goebbels, Eintrag vom 10. 11. 1938, Dok. 124, in: Götz Aly u. Susanne Heim (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Edition Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Band 2, München 2009, S. 363–366, hier S. 364. ↩︎
  7. Reinhard Rürup, Der 9. November 1938 und das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte, in: Hans-Jochen Vogel u. Rita Süssmuth (Hg.), Gedenken und Bewahren in unserer Demokratie. Gedenken und Bewahren in unserer Demokratie, Schriftenreihe des Vereins “Gegen Vergessen – Für Demokratie”, Band 3, München 2001, S. 88-99, hier S. 92. ↩︎
  8. Ben Barkow, Vorwort, in: ders. u.a. (Hg.), Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London, Frankfurt am Main 2008, S. 9-21. ↩︎
  9. Hugo Moses, Manuskript 39 (159), in: Uta Gerhardt u. Thomas Karlauf (Hg.), Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938, List-Taschenbuch, Band 61012, Berlin 2011, S. 37-59, hier S. 37f. ↩︎
  10. Ebd., S. 40f. ↩︎
  11. Ebd., S. 40-42. ↩︎
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